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Polizeigewalt in Brasilien

Daten und Fakten

In den Armenvierteln (favelas) vieler brasilianischer Städte herrschen kriegsähnliche Zustände. Für Kinder und Jugendliche, die dort leben, gehört die tödliche Gewalt zum Alltag. Alle kennen Mordfälle in ihrem näheren Umfeld. Laut offiziellen Zahlen wurden im Jahr 2024 in Brasilien 44.000 Menschen getötet. Die Mordrate an Minderjährigen ist eine der höchsten weltweit, ein erheblicher Teil geht auf das Konto der Polizei inkl. Militärpolizei. Dabei werden häufig Waffen eingesetzt, die aus Deutschland und Europa kommen. Die meisten Opfer von Polizeigewalt sind schwarz, männlich, jung und arm. Die Strafverfolgung von Polizisten und Militärs ist mangelhaft, die Polizei tötet und bleibt oft straflos.

 

Mehr dazu: TDH-Studie “Hört auf uns zu töten! Polizeigewalt in Brasilien gegen Kinder und Jugendliche und Waffenhandel

 

Ende Oktober 2025 kam es bei einer Polizeioperation in zwei favelas in Rio de Janeiro zum größten Massaker der brasilianischen Geschichte mit über 120 Todesopfern, darunter 4 Polizisten. Augenzeugen berichteten, viele Opfer seien durch Kopf- oder Genickschüsse aus kurzer Distanz regelrecht hingerichtet worden. 

 

Laut dem brasilianischen Jahrbuch für öffentliche Sicherheit starben im Jahr 2024 in Brasilien 6.243 Menschen infolge von Polizeigewalt. 82% der Opfer waren Afrobrasilianer:innen, 99,2% männlich, über 50% jünger als 24 Jahre und etwa 10% jünger als 18 Jahre. Im Jahr 2024 waren Polizist:innen für jede fünfte gewaltsame Tötung von Kindern und Jugendlichen bis 19 Jahre verantwortlich.
 

Damit ist die brasilianische Polizei (inkl. Militärpolizei) laut vorliegenden Statistiken mit Abstand die gewalttätigste weltweit, sie tötet jeden Tag im Schnitt 17 Menschen.


Obwohl die Tötungsdelikte insgesamt in Brasilien seit einem Höchststand 2017 stark zurückgegangen sind um 33% auf rund 44.000 Fälle (2024), sind die Todesfälle durch Polizeigewalt nach einem drastischen Anstieg von 2013 bis 2019 um das Dreifache auf fast 6.400 im Jahr 2019 auf diesem hohen Niveau geblieben, und machen dadurch prozentual inzwischen landesweit 14% aller gewaltsamen Todesfälle in Brasilien aus - in Rio 19%, in São Paulo 22%, in Bahia 26% und in den nördlichen im Amazonasgebiet gelegenen Bundesstaaten Pará 24% und Amapá sogar 38%.

 

D.h. die Polizei, die eigentlich vor Mord und Totschlag schützen soll, ist dort in einem Fünftel bis einem Drittel der tödlichen Gewaltfälle selbst der Täter. In ärmeren Stadtvierteln sind die Quoten oft noch deutlich höher. Die überwiegende Mehrheit der Opfer sind Afrobrasilianer:innen.

 
Einen großen Anteil an der Welle staatlicher Gewalt hatte der rechte Präsident Jair Bolsonaro (2018-2022), der inzwischen wegen eines versuchten Militärputsches in Haft ist. Mit seinen Hetzreden legitimierte er das brutale Vorgehen und stachelte die Polizei an, sämtliche »Banditen abzuknallen«. Ähnlich agieren einige Gouverneure von brasilianischen Bundesstaaten wie Tarcísio de Freitas aus São Paulo und Claudio Castro aus Rio de Janeiro.

 

Letzterer, ein evangelikaler christlicher Fundamentalist, lobte den Erfolg der Polizeioperation im Oktober 2025 mit über 120 Toten, bei der es vier Opfer gegeben habe, die vier getöteten Polizisten – alle anderen getöteten Menschen sind für ihn nicht erwähnenswert. Dies verdeutlicht seine Haltung und Mitverantwortung für die Gewalteskalation. Seit seinem Amtsantritt 2021 ist er als Gouverneur für die vier tödlichsten Polizeioperationen der jüngeren brasilianischen Geschichte mit zusammen fast 200 Toten verantwortlich.

 

Zurecht fordern Tausende Demonstrant:innen juristische Konsequenzen. Auch von der brasilianischen Justiz und der Bundesregierung, die von der Landesregierung Rios vor der Polizeioperation im Oktober 2025 nicht informiert worden war, wurde die Gewalteskalation kritisiert und Untersuchungen wurden eingeleitet.

 

In Rio de Janeiro und ganz Brasilien haben nach dem Massaker Tausende Menschen, darunter Kolleg:innen und Partner von Terre des Hommes, Kinder und Jugendliche, gegen die Gewalt und Brutalität von Polizeieinsätzen in Armenvierteln demonstriert. Sie fordern Strafverfolgung und ernsthafte Debatten über öffentliche Sicherheit, in denen diskutiert werden muss, wie der Drogenhandel, die Kriminalisierung der Drogenkonsument:innen, die massenhafte Inhaftierung der schwarzen Bevölkerung und die weitgehende Abwesenheit von funktionierenden staatlichen Programmen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Wohnen zur Kriminalität beitragen. Eine pauschale Kriminalisierung schwarzer, armer Gemeinden, wie sie derzeit häufig stattfindet, wird abgelehnt. Unsere Forderungen an die Bundesregierung finden Sie hier

Fehlende Strafverfolgung: Polizei tötet und bleibt oft straflos

Mit hochpotenten Kriegswaffen, die auch aus Deutschland, der Schweiz und anderen europäischen Ländern kommen, führen Polizisten auf staatliches Geheiß einen »Krieg gegen Drogen und Kriminelle«, nehmen das Gesetz oft in die eigene Hand und sind auch direkt in kriminelle Aktivitäten involviert. Bei ihren Einsätzen in den Favelas gefährden sie häufig unbeteiligte Passantinnen und Passanten, oftmals auch Kinder und Jugendliche, oder attackieren diese ganz direkt.

 

So beispielsweise im Fall des 14-jährigen João Pedro Martins aus São Gonçalo im Großraum von Rio de Janeiro: Er hatte mit seinen Cousins gespielt, als Polizeibeamte 72-mal auf das Haus seiner Familie schossen und zwei Granaten warfen.

 

Oder im Fall des 16-jährigen Juan aus São Paulo, dort drang im Jardim Elba im Stadtviertel Sapopemba, in dem Terre des Hommes Projekte für Kinder und Jugendliche fördert (s.u.), ein Zivilpolizist in das Haus der Familie des 16-Jährigen ein und erschoss ihn vor seiner Mutter und den fünf jüngeren Geschwistern. Der Mörder hielt sich noch eine Stunde nach der Tat im Haus auf und wurde von ankommenden Militärpolizisten nicht etwa zur Verantwortung gezogen, sondern beglückwünscht, wie die unter Schock stehende Mutter berichtete. Dieser Fall ereignete sich 2020, trotz eindeutiger Zeugenaussagen und Indizien ist der Täter bis heute nicht vor Gericht gekommen.

 

Diesen und sechs weitere Fälle in São Paulo, Rio de Janeiro, Salvador und Fortaleza finden Sie in unserer Studie “Hört auf uns zu töten! Polizeigewalt in Brasilien gegen Kinder und Jugendliche und Waffenhandel”. Darin wurde auch untersucht, wo deutsche oder europäische Waffen eingesetzt wurden und welche Rolle der illegale und legale Waffenhandel dabei spielt. Die Fallbeispiele dokumentieren den Einsatz von Airbus-Hubschraubern und von Schusswaffen von Heckler & Koch, SIG Sauer und Walther bei schwersten Menschenrechtsverletzungen.

In den Jahren 2022, 2023 und 2024 erfolgten deutsche Rüstungsexporte im Wert von 102, 58 und 101 Mio. Euro an Brasilien, darunter Teile für Helikopter und gepanzerte Fahrzeuge, Handfeuerwaffen und Munition, die auch bei Polizeioperationen in Armenvierteln eingesetzt werden.

 

Unsere Studie “Deutsche Rüstungsexporte - europäische und internationale Verpflichtungen, geschrieben von Prof. Dr. Thilo Marauhn und zwei weiteren Völkerrechtlern, belegt, dass viele deutsche Rüstungsexporte, darunter die nach Brasilien, illegal sind und gegen den Waffenhandelsvertrag, den Gemeinsamen Standpunkt der EU zu Rüstungsexporten und andere Völkerrechtsverträge wie die UN-Kinderrechtskonvention verstoßen.

Verfehlte Drogen- und Kriminalitätsbekämpfung

Ein Grund für die Gewalteskalation ist die verfehlte Drogen- und Kriminalitätsbekämpfung, die auf Gewalt setzt. »Ein guter Bandit ist ein toter Bandit«, lautet ein weit verbreiteter Leitsatz.

Wer im Armenviertel lebt und männlich ist, steht unter Generalverdacht, ins illegale Drogengeschäft oder andere kriminelle Aktivitäten verwickelt zu sein. Bei Gewalttaten von Polizisten hingegen werden meist beide Augen zugedrückt, es herrscht weitgehende Straflosigkeit.

Forderungen

Durch die massive Polizeigewalt, fehlende oder mangelhafte Strafverfolgung, kriegsähnlichen Zustände in Wohnvierteln und gravierende Mängeln in der Kontrolle der staatlichen Bestände von Munition und Waffen sind Kinder, Jugendliche und Erwachsene stark gefährdet.

 

Daher fordern Terre des hommes Deutschland, Terre des Hommes Schweiz und unsere lokalen Partnerorganisationen in Brasilien von den verantwortlichen staatlichen Stellen, Regierungen und Unternehmen in Deutschland, Schweiz und der EU:

  • sofortiger Stopp aller Rüstungsexporte nach Brasilien
  • konsequentes Einfordern von Strafverfolgung, gerade auch bei Straftaten und Korruption von Polizisten, Militärs und anderen Amtsträgern
  • konsequentes Verurteilen der Gewalteskalation und Einfordern der Einhaltung von Menschenrechten und Völkerrecht
  • Stopp des Transfers von Rüstungstechnologie und -fachwissen nach Brasilien
  • Stopp des Verkaufs von Waffen und Rüstungsgütern durch europäische Unternehmen in Brasilien
  • umfassende und systematische Kontrollen des Endverbleibs schon gelieferter Rüstungsgüter
  • Einfordern einer brasilianischen staatlichen Strategie (auf Bundes- und Bundesstaatenebene) zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und für öffentliche Sicherheit, die nicht auf Gewalt in armen Stadtvierteln setzt


Statt brutaler Polizeigewalt, die zu einer Gewalteskalation und allenfalls der Verschiebung krimineller Strukturen in benachbarte Viertel führt, wie Studien zeigen, sollte Brasilien auf lokale, dauerhaft in den Vierteln stationierte Polizeieinheiten, die im engen Dialog mit der lokalen Bevölkerung stehen (hier gibt es positive Erfahrungen in einigen Bundesländern), Gewaltprävention, Friedensbildung und Förderprogramme für Bildung und berufliche Perspektiven für junge Menschen setzen und gleichzeitig der organisierten Kriminalität systematisch die Geldhähne zudrehen: Geldwäsche und Korruption müssen dringend verhindert werden, der Drogenhandel unter staatlicher Aufsicht legalisiert, der illegale Waffenhandel, in den oft Amtsträger verwickelt sind, konsequent unterbunden und staatliche Waffenarsenale deutlich besser bewacht und kontrolliert werden.


Dass dies bei entsprechendem politischen Willen möglich ist, zeigt der erfolgreiche Schlag der brasilianischen Bundesbehörden („Operation Carbono Oculto“) gegen die organisierte Kriminalität im August 2025 in São Paulos Geschäftsviertel, bei dem Belege für Steuerhinterziehung in Höhe von 1,2 Milliarden Euro und Vermögenswerte in Höhe von 500 Millionen Euro des sogenannten „Ersten Kommandos der Hauptstadt“ (Primeiro Comando do Capital - PCC) beschlagnahmt werden konnten und kein einziger Schuss fiel. Zudem muss der Zugang zu Waffen für Privatleute, der unter der Regierung Bolsonaro (2018-2022) stark erleichtert wurde, wieder eingeschränkt werden.

   
Die Gewalteskalation in Brasilien und die damit verbundenen schweren Kinderrechtsverletzungen müssen dringend gestoppt werden – auch Deutschland als einer der wichtigsten Partner in Handel und Entwicklungszusammenarbeit und einer der größten Rüstungslieferanten Brasiliens steht hier in der Verantwortung.
 

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