26. Oktober: Die Rattenminen von Bellary
Unser Projektpartner Rural Education and Action Development Society (READS) entführt uns auf abenteuerlichen Wegen in das ländliche Indien. Hier liegen winzige Dörfer und einzelne Häuser weit verstreut in der Landschaft und wir sehen überall kleine Felder mit den verschiedensten Feldfrüchten. Der scheinbar idyllische Schein trügt: Die Menschen sind hier so arm, dass sie sich kaum ernähren können. Außerdem sehen wir immer wieder Hütten- und Elektrizitätswerke und große Wohnheime für Wanderarbeiter, denn dieser dünn besiedelte Raum bietet nicht genügend Arbeitskräfte für die Eisenerzindustrie. An den ärmlichen Unterkünften donnern täglich hunderte von LKW vorbei, die Rasenerze und Kohle für die Hüttenwerke und Baumaterial für die vielen Wohnheime und neue Fabriken transportieren. Überall wird roter Staub aufgewirbelt, der sich auf Pflanzen, Häuser und Felder legt und das Atmen erschwert. Hautkrankheiten und Asthma sind häufig in der Bevölkerung. Die Infrastrukturkosten dieser Eisenerzindustrie sind enorm: wir sehen halb abgetragene Berge und riesige Abraumhalden. Dazwischen kleinere Grabungsstellen, die sogenannten Rattenminen, die Bauern illegal betrieben haben, um an diesem Boom teilzuhaben. Jede für sich relativ klein haben sie in der Menge zu einer großräumigen Zerstörung der Vegetationsdecke geführt. Bäche und Flüsse, die die Abwässer der Industrie weitgehend ungeklärt aufnehmen, sind mit Schwermetallen vergiftet, die Trinkwasserversorgung ist ein riesiges Problem. Die armen Menschen müssen das Wasser kaufen und teuer bezahlen, da es von weit her herantransportiert werden muss. Thippesh, der Direktor von READS, erklärt uns, dass sich aufgrund der industriellen Aktivitäten das Mikroklima der Gegen verändert hat. Bellary ist nun die fünft-heißeste Gegend im Bundesstaat Karnataka, und es fällt nur halb so viel Regen wie in benachbarten Regionen.

Die Campschulen
Die Unterrichtsversorgung ist generell schlecht. Schulen gibt es nur in größeren Dörfern, die Schüler-Lehrer-Relation beträgt manchmal nur 350 zu 1. Die Organisation READS, die wir schon lange unterstützen und die mittlerweile auch Mittel von der indischen Regierung einwerben konnte, stellt deswegen den Schulen in ihrem Projektgebiet zusätzliche Lehrer zur Verfügung. Und sie unterhält dort, wo Schulen für die Kinder unerreichbar sind, zwei sogenannte Camp-Schulen. Sie werden sowohl von Bauernkindern als auch von Kindern der Arbeitsmigranten besucht. Zu einer davon fahren wir als erstes. Sie besteht aus einer etwa 12 qm großen Schilfhütte mit einem kleinen eingezäunten Hof, an dessen Ränder Blumen gepflanzt sind. Die beiden Lehrerinnen und ihre 34 Schulkindern im Alter zwischen zwei und zehn Jahren erwarten uns schon. Stolz präsentieren sie Unterrichtsmaterialien und Spielzeug, das überwiegend aus bunt bemalten Recycling-Material besteht. Der Unterricht, der von 10 bis 16 Uhr dauert, findet in zwei Gruppen statt, die nach Sprachkenntnissen und Unterrichtsfortschritt der Schüler und Schülerinnen zusammen gesetzt sind. Spaß und Spiel nehmen einen breiten Raum ein, dazu gibt es Basis-Unterricht. Finden die Kinder halbwegs Anschluss an das staatliche Schulsystem, besuchen sie später ein Brückeninternat und danach eine normale Schule.

Die Brückenschulen
Nachmittags erreichen wir eine Brückenschule am Rand eines kleinen Dorfes. Als wir ankommen, wird einer Gruppe von Schülern im Schatten eines großen Baumes Unterricht erteilt, während aus einem der Gebäude Kinder- Stimmen beim Aufsagen von Einmaleins-Reimen zu hören sind. 50 Schülerinnen und Schüler im Alter von sechs bis 14 Jahren besuchen für jeweils sechs Monate die Schule, 40 von ihnen leben auch dort. Zwei Lehrer unterrichten sie in zwei Gruppen, Sport, Spiel und Spaß kommen dabei nicht zu kurz. Alle zwei Monate gibt es eine Schulung für die Eltern der Kinder, außerdem kommen regelmäßig ehemalige Brückenschüler zu Besuch und motivieren mit ihrem Beispiel ihre Nachfolger zum Durchhalten. Daneben gibt es für die Kinder Besuche bei der Polizei, dem Postamt und anderen Einrichtungen, um ihnen auch das Leben außerhalb ihrer sehr begrenzten Umgebung zu zeigen. Wir treffen bei diesem Besuch einige der ehemaligen Schüler. Sie sind jetzt selbstsichere Teenager, die stolz von ihren Erfolgen sprechen. Da ist zum Beispiel Chitra, die im Alter von neun Jahren von der Schule genommen wurden und zwei Jahre in einer Mine schuften musste. Das grazil wirkende Mädchen konnte nach Besuch der Brückenschule direkt in die siebte Klasse der staatlichen Schule wechseln und macht demnächst ihren Abschluss. Oder da ist Maliva, der vor dem Besuch der Brückenschule überhaupt noch nie zur Schule gegangen ist. Er hat so gut gelernt, dass er aus dem Stand heraus gleich die staatliche Schul-Abschlussprüfung mit Erfolg absolviert hat und jetzt bei einer Don Bosco Einrichtung den Beruf des Zimmermanns erlernt. Es gibt noch einige dieser Erfolgsgeschichten.