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Der Koalitionsvertrag und das Chancenaufenthaltsrecht – Paradigmenwechsel oder Bleiberechtslotterie?

Ein Kommentar von Sophia Eckert, Referentin für Public Affairs, zum Chancen-Aufenthaltsrecht

Der Koalitionsvertrag der Ampelregierung versprach große Veränderungen, sogar einen Paradigmenwechsel in der Asyl- und Migrationspolitik. Am 06. Juli wurde dazu im Bundeskabinett ein sogenanntes »Vorpaket« beschlossen. Verbesserungen beim Bleiberecht und Zugang zu Sprach- und Integrationskursen sollen zeitnah kommen, der Familiennachzug bei Fachkräften erleichtert werden. Gleichzeitig wird im Bereich der Rückführung verschärft. Der angekündigte Paradigmenwechsel bleibt damit vorerst aus.

Kernstücke des Vorpakets sind ein Chancenaufenthalt für Menschen mit Duldung sowie Erleichterungen bei den sich anschließenden Bleiberechtsregelungen. Mehr als 200.000 Menschen, unter ihnen viele Kinder und Jugendliche, leben derzeit mit einer Duldung in Deutschland, etwa 130 000 von ihnen länger als fünf Jahre.  Sie wissen nie: Kann ich bleiben oder werde ich abgeschoben?

Mit dem Chancenaufenthalt will die Bundesregierung die Praxis der langjährigen Kettenduldungen und ungewissen Aufenthaltsperspektive für Personen, die am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland geduldet waren, beenden. Dazu sollen Betroffene einmalig einen einjährigen Aufenthalt »auf Probe« erhalten. Während dieses Jahres können sie unter anderem Arbeit finden und Identitätsnachweise beschaffen. Gelingt es dadurch, die Voraussetzungen für einen anschlussfähigen Aufenthaltstitel zu erfüllen, bekommen sie ein längerfristiges Bleiberecht.

Das Ziel, Kettenduldungen zu beenden, ist uneingeschränkt zu begrüßen und wäre zur Zeit der großen Koalition kaum denkbar gewesen. Auch die Anerkennung und Berücksichtigung der zivilgesellschaftlichen Expertise im Gesetzgebungsverfahren sind ein erheblicher Fortschritt zu den vorherigen Legislaturperioden.

Ob das Gesetz in der aktuellen Fassung jedoch tatsächlich Betroffenen wie erhofft eine Chance eröffnet, ist fraglich. Denn es droht ein Flickenteppich in der bundesweiten Erteilungspraxis, da Ausländerbehörden weiterhin teils große Entscheidungsspielräume haben. Zum einen sind Erteilungsansprüche nicht vorgesehen. Zum anderen haben Ausländerbehörden etwa bei der Identitätsklärung und Passpflicht in Fragen von Zumutbarkeit und Möglichkeit der Dokumentbeschaffung freies Ermessen. Bleibt es dabei, würden wohlwollende Ausländerbehörden, Sachbearbeitungen und Bundesländer Chancen eröffnen, anderenorts würden bei derselben Fallkonstellation Chancen verbaut und ein Bleiberecht verweigert. Für Betroffene, Beratende und Betriebe ein kaum nachvollziehbarer und schwer zu ertragender Zustand.

Mit Blick auf Kinder und Jugendliche schmerzt besonders, dass die Chance vertan wird, bei der Bleiberechtsregelung für gut integrierte Jugendliche und junge Volljährige offensichtlich reformbedürftige Aspekte anzupacken: So sind Kinder unter 14 Jahren auch nach den gesetzlichen Änderungen nicht von der Möglichkeit dieser Aufenthaltsgewährung erfasst. Auch wird die rigide Definition dessen, was es bedeutet, als Jugendlicher »gut integriert« zu sein, nicht geöffnet. Den Familien der Jugendlichen, die dieses Bleiberecht erhalten, droht in vielen Fällen weiterhin die Rückführung – oft eine Nervenprobe für die Betroffenen. Es ist zu hoffen, dass hier im parlamentarischen Verfahren nachgebessert wird.

Für diejenigen, die vom Chancenaufenthalt nicht profitieren, weil sie etwa zum 1. Januar noch nicht fünf Jahre hier gelebt haben, bietet das Vorpaket leider wenig neue Chancen. Zehntausenden geduldeten Menschen wird das Arbeiten weiterhin verboten, Ausbildungen werden, wenn überhaupt, nur im Duldungsstatus ermöglicht. Im Koalitionsvertrag ist vorgesehen, Arbeitsverbote abzuschaffen und Auszubildenen einen Aufenthaltstitel anstatt einer Duldung zu erteilen – im aktuellen Gesetzentwurf ist dazu nichts zu finden. Stattdessen werden die Möglichkeiten zu Ausweisung und Abschiebungshaft erweitert - ein Paradigmenwechsel sieht anders aus.

Das Vorpaket beinhaltet zwar Erleichterungen beim Familiennachzug – allerdings nur bei Fachkräften. Erleichterungen für anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte fehlen, obwohl sie im Koalitionsvertrag vereinbart wurden.

Gegen Ende des Jahres wird ein umfassendes Reformpaket zu Flucht und Migration erwartet, welches die noch ausstehenden Ankündigungen aus dem Koalitionsvertrag umsetzen soll. Es bleibt zu hoffen, dass die Regierungsparteien bis dahin den Mut finden, einen echten Paradigmenwechsel anzustoßen, der auch über den Wortlaut des Koalitionsvertrags hinaus Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen Perspektiven eröffnet, ihre Würde achtet und Teilhabe ermöglicht – egal ob sie in Bremen oder im bayerischen Deggendorf wohnen.

Der Kommentar wurde zuerst veröffentlicht im Forum Migration des DGB-Bildungswerks.

Stellungnahme von terre des hommes, Jugendliche ohne Grenzen und dem Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge vom 07.06.2022

Pressemitteilung vom 05.07.2022: Chancen für geflüchtete Kinder und Erwachsene

 

 

 

 

 

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