Kinder auf der Flucht - Interview mit Anne Spiegel
Anne Spiegel ist Ministerin für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz des Landes Rheinland-Pfalz. Im Interview spricht sie über Kinder auf der Flucht und Integrationschancen in Deutschland.
Frau Spiegel, was tut Rheinland Pfalz dafür, dass Kinderrechte ins Grundgesetz kommen?
Kinderrechte gehören ins Grundgesetz. Ohne Wenn und Aber. Bereits 2008 und 2011 hat Rheinland-Pfalz deshalb zusammen mit anderen Bundesländern eine entsprechende Initiative im Bundesrat initiiert. Aktuell beteiligen wir uns aktiv an dem von der Jugend- und Familienministerkonferenz und Justizministerkonferenz angestoßenen Prozess, eine mehrheitsfähige Formulierung zu finden. Ich bedauere sehr, dass es in dieser Legislaturperiode des Bundestages nicht mehr gelingt, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern.
In den ersten 15 Monaten erhalten Flüchtlingskinder nur eine Gesundheistversorgung für akute Krankheiten und Schmerzzustände. Besonders betroffen sind Kinder mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen, auch der Zugang zu Psychotherapien ist nicht gesichert. Wie ist die Praxis in Rheinland Pfalz?
Die physische und psychische Gesundheit von geflüchteten Kindern und Jugendlichen liegt mir sehr am Herzen. Sie gehören zu den sogenannten schutzbedürftigen Personen mit besonderen Bedürfnissen. Deshalb beschränkt sich ihre gesundheitliche Versorgung in den ersten 15 Monaten nicht nur auf die Behandlung von akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen, sondern sie erhalten mit Rücksicht auf ihre spezielle altersbedingte Schutzbedürftigkeit jede erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe.
Rheinland-Pfalz sieht darin nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine moralische Verpflichtung. Wir erfüllen die EU-Aufnahmerichtlinie, bei der Fluchtaufnahme vorrangig auf das Wohl des Kindes zu achten und einen der körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung des Kindes angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten. Die Beschäftigten in den rheinland-pfälzischen Erstaufnahmeeinrichtungen wurden entsprechend zu den Vorgaben der EU-Aufnahmerichtlinie geschult.
Ich bedauere es sehr, dass der Bund es bislang ablehnt, die Vorgaben der EU-Aufnahmerichtlinie in nationales Recht umzusetzen. Die Folge ist, dass die EU-Kommission gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat. Dies zeigt, dass ein Handeln des Bundes dringend notwendig ist, um bundesweit die humanitäre Rechtsstellung aller schutzbedürftiger – nicht nur der minderjährigen – Asylbewerber und Asylbewerberinnen besser abzusichern.
Immer noch wird Flüchtlingskindern die Teilnahme am Regelunterricht der Schulen zu lange verwehrt, obwohl sie ein Recht auf Bildung haben. Welches sind Ihre Erfahrungen mit den Schulen, Lehrern, Eltern, ziehen die mit, gibt es Probleme?
Für die Zeit in den Erstaufnahmeeinrichtungen gilt das Schulbesuchsrecht. In jeder Einrichtung wird daher ein schulisches Angebot durch eine hauptamtliche Lehrkraft vorgehalten, um grundlegende Sprachkenntnisse zu vermitteln und auf den Schulbesuch vorzubereiten.
Die ADD als zuständige Schulaufsichtsbehörde hat frühzeitig Runde Tische zur Sprachförderung und zur Integration der Kinder in die Schulen vor Ort eingerichtet. Sobald die Familien in die Kommunen umgezogen sind, gilt die Schulpflicht wie für alle anderen Kinder und Jugendlichen auch. Um Kinder von Geflüchteten möglichst schnell den Schulbesuch zu ermöglichen, bleiben Familien mit Kindern in der Regel nicht länger als drei Monate in den Erstaufnahmeeinrichtungen. Dies gilt allerdings nicht für Personen aus sogenannten „sicheren Herkunftsländer“, für die eine Wohnpflicht in der Erstaufnahme bis zum Ende des Aufenthalts besteht.
In den Kommunen werden die Kinder neben dem ganz normalen Schulbesuch durch zusätzliche Lehrkräfte speziell gefördert. Spezielle „Willkommensklassen“ wie in anderen Bundesländern gibt es bei uns nicht, denn wir legen Wert darauf, dass die Kinder und Jugendlichen von Anfang an Teil einer Klassengemeinschaft sind. Sie erhalten je nach Deutschkenntnissen bis zu 20 Stunden in der Woche eine Deutschintensivförderung. In den übrigen Stunden nehmen sie zum Beispiel am Sport-, Kunst- oder Musikunterricht ihrer Klasse teil. Mit zunehmenden Sprachkenntnissen reduziert sich der Anteil der Deutschförderung und der Anteil am Regelunterricht erhöht sich.
Mit diesem rheinland-pfälzischen Konzept der Sprachförderung haben wir gute Erfahrungen gemacht. Der Ansatz, die Kinder am Regelunterricht teilnehmen zu lassen und sie so direkt zu integrieren, hat sich bewährt.
Gemeinschaftsunterkünften stellen für Kinder, die dort mit ihren Familie leben, keinen kindgerechten und dem Kindeswohl entsprechenden Lebensraum dar. Wie ist die Handhabung in Rheinland Pfalz?
Die Landesregierung setzt sich auf allen Ebenen dafür ein, dass Geflüchtete gut aufgenommen, betreut und begleitet werden. Für die Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes wurde ein Schutzkonzept entwickelt, das den Bedürfnissen von besonders schutzbedürftigen geflüchteten Personen Rechnung trägt. Ein Augenmerk liegt dabei insbesondere auf dem Schutz von Kindern und Jugendlichen. So bieten wir – soweit wie möglich - kinderfreundliche und geschützte Bereiche und spezielle altersgerechte Angebote an, wo die Kinder ganz einfach Kinder sein können und mit Gleichaltrigen spielen und toben können. Dazu zählen zum Beispiel Spielstuben, wie es sie mittlerweile in jeder Erstaufnahmeeinrichtung gibt, oder Freizeit- und Sportangebote und Sprachkurse, die von haupt- und ehrenamtlichen Kräften betreut werden.
Sie setzen sich dafür ein, den Familiennachzug auf Bundesebene wieder zu ermöglichen. Wie schätzen Sie die Chancen ein? Wo liegen die Hinderungsgründe?
Wir hatten uns auf der Jugend- und Familienkonferenz dafür eingesetzt, den Stopp des Familiennachzugs für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz aufzuheben und den Kreis der nachzugsberechtigen Angehörigen über die Kernfamilie hinaus Leider hat unser Antrag keine Mehrheit erhalten, denn das ist von anderen Ländern, besonders den CDU/CSU-regierten, nicht gewollt. Hört man den Bundesinnenminister, besteht sogar die Gefahr, dass die Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte verlängert wird. Das wäre für die betroffenen Menschen – ganz besonders für Kinder, die hier ohne ihre Eltern leben müssen - eine Katastrophe. Schon jetzt müssen rund 2.200 syrische Kinder diese Situation aushalten. Ich bleibe dabei: Kinder von ihren Eltern zu trennen ist unmenschlich und ich werde mich weiterhin politisch für den Familiennachzug stark machen.
1.10.17