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Geflüchtete Kinder in Deutschland

»Es sind die Strukturen, die die Kinder aufhalten.«

Im Jahr 2024 erreichte die politische Debatte um Flucht und Migration in Deutschland neue Tiefpunkte. Führende Politiker*innen fordern Abschiebungen »im großen Stil« oder greifen zu Pauschalisierungen, um politisch von Vorurteilen gegenüber Geflüchteten zu profitieren. Die Leidtragenden sind dabei immer auch schutzsuchende Kinder und Familien, deren Situation völlig außer Acht gelassen wird. 

Im Interview: Antje-Christin Büchner vom Flüchtlingsrat Thüringen und Philipp Millius von der Terre des Hommes-Partnerorganisation REFUGIO Thüringen sprechen über die Situation geflüchteter Kinder: Darüber, mit welchen Lasten und Hoffnungen sie in Deutschland ankommen, welche Hindernisse sie im Umgang mit Behörden erleben und was die aktuellen Debatten um Flucht und Asylrecht für sie bedeuten.

Philipp, Antje, seit Jahren verschärft sich der Ton in den Migrationsdebatten der deutschen Politik. In den letzten Monaten ging es um besonders drastische Einschränkungen. Wie nehmt ihr die Situation wahr?

Antje-C. Büchner: Wir sehen seit fast zehn Jahren wieder, dass Gesetze die Rechte von Geflüchteten in immer neuen Wellen einschränken. Es verschiebt sich mittlerweile bis zu dem Punkt, dass selbst Kinderrechte und Menschenrechte einfach ignoriert werden. Ob das die Einführung der Bezahlkarte ist; dass man den Menschen verbietet, Arbeit und Ausbildung aufzunehmen, sie aber auf der anderen Seite zu gemeinnütziger Arbeit zwingt; oder dass man mit einem »Sicherheitspaket« die Leistung für Menschen in Dublin-Verfahren kappen und sie in Obdachlosigkeit schicken will.

Philipp Millius: Für diejenigen, die nach Europa kommen, ist es immer schwerer gemacht worden, durchzukommen, anzukommen. Man muss sich aber klarmachen, was das für Kinder, Jugendliche und Familien heißt, die sich auf den Weg gemacht haben: Gerade an den EU-Außengrenzen und gerade auf der Balkanroute ist Gewalt drastisch angestiegen. Menschen, die fast immer schon aus einem schlimmen Grund flüchten mussten, kommen hier mit einem ganzen Gepäck von weiteren Gewalterfahrung an. Und dann hören sie im Zweifel: »Okay, Deutschland ist aber nicht für dein Asylverfahren zuständig.« Dann sollen sie nach Bulgarien, Kroatien zurückkehren, dort, wo man sie vielleicht misshandelt hat, eingesperrt hat… das ist die nächste, krasse Gewalterfahrung.



Antje-Christin Büchner ist Sozialarbeiterin und arbeitet beim Flüchtlingsrat Thüringen e.V. als Referentin und Beraterin zu asyl- und aufenthaltsrechtlichen Fragen an der Schnittstelle zur Jugendhilfe, insbesondere für unbegleitete minderjährige Geflüchtete.



Philipp Millius ist Sozialberater für geflüchtete Kinder und Jugendliche bei der Terre des Hommes-Partnerorganisation »REFUGIO Thüringen«. Das PSZ REFUGIO Thüringen unterstützt und versorgt insbesondere traumatisierte Kinder und Jugendliche, psychisch erkrankte Geflüchtete sowie Überlebende von Folter und Menschenhandel.


Was fehlt euch in den Debatten am meisten?

Philipp Millius: Die Perspektive der Geflüchteten fehlt komplett. Über sie wird gesprochen und entschieden. Aber was sie ihrerseits für Hürden bewältigen müssen, um hier anzukommen, die Prozesse der Behörden einzuhalten, die Alltagskämpfe, das kommt praktisch nirgendwo vor.  

Es ist aktuell bei uns in Thüringen normal, dass Antragsteller*innen deutlich über sechs Monate lang auf ihren Bescheid im Asylverfahren und ihre Aufenthaltserlaubnis warten müssen. In manchen Fällen sogar über Jahre hinweg. Gerade, weil die Wartezeit so lang ist, und weil der öffentliche Diskurs parallel dazukommt, ist die Unsicherheit für Jugendliche und Familien natürlich noch mal besonders belastend. Für viele bleibt diese Zeit des Wartens und Ausharrens verlorene Zeit.

Antje-C. Büchner: Es wird ein Integrationsdruck aufgebaut, ohne dass die Voraussetzungen zur Integration geschaffen werden. Es sind die Strukturen, die die Kinder aufhalten und in ihren Rechten einschränken. Sie müssen so unfassbar große Stolpersteine überwinden, die ihnen in den Weg gelegt werden, dass es eine Riesenleistung ist, wenn es jemand schafft, in Ausbildung oder gar ins Studium zu kommen. Wir haben Städte und Landkreise, wo die Schulplätze nicht reichen. Kinder und Jugendliche erleben, dass sie die deutsche Sprache nicht lernen können, weil die Gelder und Fachkräfte für Sprachkurse nicht da sind. Neu eingereiste, unbegleitete Minderjährige werden zum Teil unterhalb der Kinder- und Jugendhilfestandards untergebracht, zum Beispiel in Sammelunterkünften für Erwachsene, und nur notdürftig betreut.

Das alles zusätzlich dazu, dass sie hier ohnehin schon mit ihrem Ballast ankommen, ihren Fluchtgründen und Fluchterfahrungen. Kinder, die eigentlich psychotherapeutische und psychosoziale Betreuung bräuchten, hängen hier zwischen den Behördenprozessen fest. Sie kommen gar nicht dahin, selber zu gesunden, zu erstarken, sondern werden mit immer mehr Druck und Erwartungen überhäuft.
 

Könnt ihr von einem Fall berichten, der sich euch besonders eingeprägt hat?

Antje-C. Büchner: Wir hatten den Fall eines 14-jährigen Jungen aus Afghanistan, der mit elf Jahren allein nach Deutschland gekommen war. Die Mutter war verwitwet und hatte noch vier minderjährige Kinder, mit denen sie ins Nachbarland geflohen war. Und der Junge hat dann hier praktisch entschieden: »Ich geh nicht mehr zur Schule, ich muss arbeiten. Meine Mutter hungert, meine Geschwister hungern. Ich halte das nicht aus.«

Wir haben dann am Ende tatsächlich überlegt, wie er sich mit Ferienjobs etwas verdienen konnte, ohne die Schule komplett hinzuwerfen. Solche Geschichten werden aber kaum gehört, auch die Behörden hören sich individuelle Fluchtgeschichten kaum an. Dann sollen die Kinder in der Schule aufmerksam sein, konzentriert gut lernen, Hausaufgaben machen, schlafen nachts aber nicht, weil ihnen all das durch den Kopf geht, weswegen sie fliehen mussten, was mit ihren Familien passiert oder was sie auf der Flucht erlebt haben.
 

Schlägt die Diskursverschiebung also auch in der Arbeitspraxis der Ämter und Behörden durch?

Philipp Millius: Man merkt schon, dass repressiver agiert und entschieden wird. Es passieren inzwischen regelmäßig Dinge, die vor einigen Jahren noch undenkbar oder zumindest ein Skandal gewesen wären. Dass das Personal in Einrichtungen abends in die Zimmer geht und kontrolliert. Dass die Polizei in die Unterkünfte reinrockt und alle Zimmer auf der Suche nach bestimmten Personen betritt.

Auch hier muss man sich klar machen, was es für Kinder heißen kann, wenn unangekündigt fremde, uniformierte Menschen in die Zimmer reingehen. Oft genug kocht das die Gewalterfahrungen in den Herkunftsländern wieder hoch. Gerade bei Familien, die sich etwa in Afghanistan nach der Machtübernahme durch die Taliban verstecken mussten. Und besonders für die Kinder ist das massiv destabilisierend, verunsichernd und verängstigend.


Hat sich eure eigene Arbeit dadurch verändert?

Antje-C. Büchner: Die Arbeit selbst bleibt für uns relativ gleich: Wir versuchen, durch Öffentlichkeitsarbeit auf Missstände hinzuweisen, und durch Einzelberatungen Menschen zu helfen. Verschärfen sich Gesetze, werden Kinder- und Menschenrechte mit Füßen getreten, dann heißt das für uns: Jetzt erst recht! Was unsere Arbeit aber sehr einschränken würde, wären Kürzungen finanzieller Mittel für die Beratung, Betreuung, psychosoziale Versorgung und Integration von Geflüchteten – und hier sind bereits viele Kürzungen geplant.
 

Könnt ihr in diesem Zusammenhang kurz beschreiben, wie eure alltägliche Arbeit aussieht? Wie seid ihr für Kinder und Jugendliche da?

Antje-C. Büchner: Ich unterstütze derzeit vor allem Fachkräfte, die mit unbegleiteten geflüchteten Kindern und Jugendlichen arbeiten, arbeite also vor allem auf der Organisationsebene. Philipp und ich sind gleichzeitig die Landeskoordination für den BumF [Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, d. Red.] in Thüringen.

Philipp Millius: Ich arbeite in der psychosozialen Unterstützung von Kindern und Jugendlichen. Häufig arbeite ich im Tandem mit Psycholog*innen. Ich kümmere mich dann um den nicht-therapeutischen Teil; Fragen nach Aufenthaltssicherung, nach Lebensunterhalt oder nach Unterbringung. Zum Beispiel leiden viele Kinder Jugendliche unter Schlafstörungen. Die werden durch die Unruhe in den Unterkünften und in den Jugendhilfeeinrichtungen nochmal verstärkt. Zuerst muss man da also die Rahmenbedingungen für die Therapie verbessern, und dann greift die Sozialberatung mit therapeutischen Angeboten ineinander.


Wenn ihr in der Migrationspolitik etwas anders machen würdet, was wäre das Wichtigste?

Antje-C. Büchner: Es ist eigentlich unfassbar, dass man es überhaupt betonen muss, aber: Das Kindeswohl muss an erster Stelle stehen. Die Kinderrechte müssen eingehalten werden!

Für Kinder darf es keine Sammel- und Massenunterkünfte geben. Sie gehören nicht in Erstaufnahmeeinrichtungen, schon gar nicht ohne Kinderschutzkonzepte. Polizeigewalt gegen Kinder und Abschiebungen von Kindern, gerade aus Jugendhilfeeinrichtungen, darf es nicht geben.

Kinder brauchen hier Sicherheit und Perspektiven. Sie brauchen Schulunterricht, sie brauchen Kitas, sie brauchen Sprachkurse. Einige brauchen unbedingt psychotherapeutische Versorgung.

Philipp Millius: Die Frage muss doch sein: Wie können wir Menschen, können wir Kinder, Jugendliche und ihre Familien eben dahingehend unterstützen, hier anzukommen, sich eine Zukunft aufzubauen? Und oft fehlt dieser Blickwinkel momentan leider komplett.

 


Interview: Stephan Pohlmann

28.11.2024