Nordost-Syrien: »Hilfe wird dringend benötigt«
Deborah Da Boit ist Länderdirektorin für Jordanien und Programmkoordinatorin Syrien bei terre des hommes Italien. Im Interview spricht sie über die aktuelle Situation im Nordosten Syriens, über die Fluchtbewegungen nach der Offensive der türkischen Regierung und über die Hilfe von terre des hommes.
Frau De Boit, unter welchen Problemen leiden die Menschen im Konfliktgebiet am meisten?
Die Menschen in Nordost-Syrien leiden seit vielen Jahren unter den unvorstellbaren Lebensbedingungen in der Region. Viele wurden mehrfach vertrieben und haben körperliche und psychische Qualen erlitten. 1,65 Millionen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Mit der Offensive der türkischen Regierung hat sich die Situation weiter verschlimmert. Viele Dörfer und Gemeinschaften sind zerstört. In Regionen, in denen die Kämpfe stattfinden, gibt es so gut wie keinen Zugang und folglich auch keine Hilfe. Nationale Hilfsorganisationen haben sich aus Sicherheitsgründen zurückgezogen und ihre Arbeit vorerst eingestellt. Dabei wird Hilfe dringend benötigt.
Durch den Artilleriebeschuss bewohnter Gebiete wurde lebensnotwendige Infrastruktur zerstört. Den Menschen dort fehlt es an allem, sie haben weder ausreichend Essen noch Arzneimittel. Angesichts der aktuellen Lage, vor allem aber auch des bevorstehenden Winters ist der Zugang zu Nahrung, Gesundheitsversorgung und Decken überlebenswichtig.
Wie viele Menschen sind bereits geflohen?
Momentan belaufen sich die Schätzungen auf etwa 150.000 bis 160.000, und es wird ständig von neuen Fluchtbewegungen berichtet. Die tatsächliche Zahl der Binnenvertriebenen ist also vermutlich höher. Wie viele Menschen über die Grenze zum Irak fliehen werden, kann niemand sagen. Vielleicht kommen wenige, es können aber leicht auch bis zu 250.000 werden.
Wohin können die Menschen gehen?
Die meisten bleiben in der Nähe. Sie finden Unterschlupf bei Freunden oder Verwandten, die in etwas sichereren Gebieten leben. Die Menschen bewegen sich Richtung Süden hinter die 32-Kilometer-Pufferzone, die die türkische Regierung einrichten will, in Gebiete wie Al Hassakeh im Osten und Ein Issa und Raqqa im Westen. Außerdem kommen immer mehr in die Auffanglager für Binnenvertriebene, die es ja schon länger gibt. Falls Flüchtlinge es über die Grenze in den Irak schaffen, werden sie vermutlich ihre Verwandten in der Gegend um Dohuk und Erbil treffen, die bereits 2014 und 2015 dorthin gekommen sind.
Wie kann terre des hommes ihnen helfen?
In Nordost-Syrien stimmt sich terre des hommes zurzeit mit dem Syrisch-Arabischen Roten Halbmond und mit lokalen Partnern ab, um in den Auffanglagern für die Vertriebenen und an anderen Zufluchtsorten die Kinder und ihre Angehörigen zu unterstützen, die es am dringendsten brauchen. Wir wollen vor allem in Areesha, Qamishli, Ain Issa, Mabrukeh und vielleicht auch in Al Hassake Essenspakete, Hygiene-Kits, Baby-Kits und Decken verteilen, aber auch psychosoziale Erste Hilfe leisten.
Im Irak ist terre des hommes Italien Kindesschutzpartner des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR. Wenn neue Flüchtlinge in großer Zahl ins Land kommen, wird der UNHCR uns bitten, für Kindesschutzmaßnahmen zu sorgen – insbesondere unter den Neuankömmlingen in den Camps und in den städtischen Gebieten bei Erbil. Wir kümmern uns um Kinder, die dringend Hilfe brauchen – zum Beispiel solche, die sich ohne Eltern dorthin durchgeschlagen haben. Wir suchen nach ihren Angehörigen und bringen Familien wieder zusammen. Wir helfen mit Notunterkünften für unbegleitete Kinder, in denen sie sicher sind und von Erwachsenen betreut werden.
terre des hommes und 14 weitere Hilfswerke fordern in einem Statement ungehinderten und sicheren humanitären Zugang zum Konfliktgebiet und den Schutz der Zivilbevölkerung.