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Kommentar

Zehn Jahre Tsunami - was uns Hilfe und Wiederaufbau auch gezeigt haben

Vor knapp zehn Jahren, am 26. Dezember 2004 gegen 1.00 Uhr Ortszeit, erschütterte ein gewaltiges Seebeben vor der Küste Indonesiens weite Teile der Anrainerstaaten des Indischen Ozeans. Vor allem die Provinz Aceh im Norden der indonesischen Insel Sumatra, sowie Thailand, Indien und Sri Lanka waren stark betroffen, doch auch in Burma, Malaysia, Kenia und Somalia war die Flutwelle spürbar und kostete Menschen das Leben. Insgesamt fielen dem Tsunami rund 240.000 Menschen zum Opfer, 50.000 gelten nach wie vor als vermisst. Etwa 1,7 Millionen Menschen verloren Haus und Habe.  

Welle der Hilfsbereitschaft
Die Katastrophe hatte weltweit und auch in Deutschland eine bisher kaum gekannte Welle der Hilfsbereitschaft zu Folge. Eindringliche Berichte über die Gewalt der Welle rüttelten Menschen auf, die zwischen Weihnachten und Neujahr Zeit zum Fernsehen hatten, betroffene deutsche Thailand-Touristen stellten die Nähe zu eigenen Landsleuten als Opfer in der Ferne her. Anfang März 2005, also gut zwei Monate nach dem Tsunami, meldete das Deutsche Zentralinstitut für Soziale Fragen in Berlin bereits ein Spendenaufkommen von über 500 Millionen Euro , manche Hilfsorganisationen erzielten im ersten Quartal 2005 Einnahmen in der Größenordnung sonstiger Jahresergebnisse. Neben Hilfsorganisationen traten weitere Akteure auf den Plan: eine kommunale Partnerschaftsinitiative  mit übergeordneter Koordination wurde etabliert, Städte und Gemeinden gründeten eigene Hilfsvereine, Bundeskanzler Schröder empfahl die Adoption von Waisenkindern aus den Tsunami-Gebieten, Medien und Unternehmen, Firmenbelegschaften und Behördenangestellte sammelten in Partnerschaft mit Hilfsorganisationen oder für schnell neu gegründete Vereine rekordverdächtige Spendensummen. Und nicht wenige Entschlossene machten sich auf den Weg in die verwüsteten Gebiete, um dort ihre gesammelten Hilfsgüter – oder das, was sie dafür hielten - zu überbringen.  
Ich-bezogene Gesellschaft brachte Mitgefühl auf
Es bleibt das positive Fazit: Das Leid der Menschen hat uns angerührt, der Gedanke von Hilfe und Solidarität mit Bedürftigen war und ist lebendig. Die vielzitierte Ich-bezogene Gesellschaft brachte Empathie und Mitgefühl auf, als Menschen unverschuldet in Not gerieten – auch wenn sie am anderen Ende der Welt lebten. Doch es wurden auch erfreulich offen  neue Diskussionen um das Wie des Spendens geführt  und politische Einsichten gewonnen oder neu bestätigt, die auch heute relevant sind.

In Deutschland bat Ärzte ohne Grenzen seine Spender um Unterstützung für Nicht-Tsunami-Opfer in anderen Regionen, deren Schicksal im Schatten der Tsunami-Berichterstattung völlig aus den Medien verschwand, und beförderte damit eine Diskussion über die Vor- und Nachteile zweckgebundener Spendenwerbung, wie sie bei Katastrophenhilfe üblich ist. Der Aufruf des Bundeskanzlers zu »unbürokratischer« Privatadoption führte zu einer Debatte, an deren Ende die Bestätigung fachlicher Mindestanforderungen für internationale Adoptionen stand, wie sie in der Haager Konvention von 1993 festgelegt sind. Und die Auswüchse gut gemeinten, aber völlig unkoordinierten Nebeneinanders mancher spontanen Hilfsaktionen, die in deutschen Wohnzimmern ohne genaue Kenntnis der sozialen und kulturellen Bedingungen und der konkreten Bedürfnisse der Betroffenen entstanden, bestätigten die Bedeutung der Zusammenarbeit mit einheimischen Partnerorganisationen. Als Teil der Zivilgesellschaft in den betroffenen Ländern verfügen sie über Kontakte und Kenntnisse, die es den erfahrenen Hilfsorganisationen ermöglichen, die ihnen anvertrauten Mittel so einzusetzen, dass aus ihnen langfristiger gesellschaftlicher Nutzen erwächst. Dazu gehört auch der kritische Blick auf die Auswirkungen des eigenen Handelns.  

Schattenseiten der Hilfe
Alberto Cacayan, langjähriger terre des hommes-Regionalprogrammleiter für Südostasien, wies zum Beispiel auf die Problematik der »cash-for-work«-Programme mancher großer internationaler Geldgeber in Aceh hin, die langfristige negative Folgen für das Sozialgefüge in der Region hatten: Mit Bargeld für Arbeit sollte der Wiederaufbau der Dörfer beschleunigt und den Menschen dafür ein Einkommen garantiert werden. Doch die Basis der Dorfgemeinschaft war die solidarische Hilfe aus freiwilligem Antrieb. Als die großen Programme der Geldgeber ausliefen, weigerten sich viele Dorfbewohner, unentgeltlich zu helfen und erwarteten für ihre Gemeinschaftsarbeit eine Entlohnung.  


Katastrophen-Kapitalismus
Dass die Reaktion auf Katastrophen auch emanzipatorische Kräfte entfalten kann, mittels derer die Überlebenden gestärkt werden, zeigt das Beispiel des Wiederaufbaus in der Provinz Nagapattinam im indischen Bundesstaat Tamil Nadu. Dort waren die Fischergemeinden an der Küste des Indischen Ozeans durch die Zerstörung ihrer Dörfer und Boote ihrer Lebensgrundlage beraubt. Viele Menschen, die unter den Folgen des Schocks durch die Flut litten und sich vor dem Meer fürchteten, wurden einige Kilometer landeinwärts in provisorischen Behausungen untergebracht. Diese Situation bot der Provinzregierung die Perspektive, 120 Kilometer Land entlang der Küste zu privatisieren und zum Beispiel für den internationalen Tourismus oder den Bau von Atomkraftwerken zu erschließen, was für die Fischergemeinden das wirtschaftliche und soziale Aus bedeutet hätte – eine Situation, die die kanadische Globalisierungskritikerin Naomi Klein 2007 in ihrem Buch zum »Aufstieg des globalen Katastrophen-Kapitalismus« als Schock-Strategie verarbeitete. Naturkatastrophen, so Klein, böten das Potential zu Privatisierung und zum Abbau sozialstaatlicher Schutzmechanismen. Wie die indische Zivilgesellschaft gegen diesen Mechanismus aktiv wurde, beschreibt der terre des hommes-Regionalkoordinator für Südindien P.E. Reji anhand der Strategie zum Wiederaufbau der Dörfer, der neben der materiellen Hilfe in Form von Booten, Häusern und Fischernetzen vor allem in die Stärkung der Selbstorganisation der Menschen, das sogenannte Empowerment, investierte. Besonders die Selbsthilfegruppen, in denen Frauen kastenübergreifend organisiert und geschult wurden, erwiesen sich als Vehikel zur Stärkung der Gemeinschaften. Viele Frauen lernten Lesen und Schreiben, erfuhren Wertschätzung als Trägerinnen von Bürgerrechten und sahen sich nicht länger als Eigentum von Ehemann oder traditionellen dörflichen Autoritäten. Sie nahmen Kredite auf, verwalteten die Mittel und lernten zu planen und ökonomisch aktiv zu werden – zum Nutzen der Gemeinden wie auch ihrer eigenen Familien. Mit gestiegenem Selbstbewusstsein trauten sie sich, ihre eigenen Interessen und die ihrer Gemeinschaften auch gegenüber den Behörden und Regierungsbeamten zu verhandeln. Auch wenn längst nicht überall die Belange der Fischergemeinschaften durchgesetzt werden konnten, gab die Stärkung und Qualifizierung der Frauen ihnen auch innerhalb der Großfamilien neue Perspektiven: Themen wie Vergewaltigung, das Mitgift-Unwesen und Kinderheiraten, aber auch Alkohol-Missbrauch und Familienplanung wurden offener angesprochen, Frauen stärker gehört und in die Entscheidungen einbezogen. 

Entscheidend ist die Stärkung der Betroffenen
Das Beispiel aus Nagapattinam führt uns zurück zu unserer Ausgangsfrage und bestätigt, was wir aus der entwicklungspolitischen Programmarbeit wissen: entscheidend ist die Stärkung der Organisations- und Artikulationsfähigkeit der Menschen, denen unsere Hilfe gilt. Sie selbst sind es, die nach der Katastrophe als erste da sind, lange bevor die internationale Unterstützung anrollt, und die bleiben, wenn die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit sich neuen Brennpunkten zuwendet. Und sie sind es deshalb auch, die wir dauerhaft stärken müssen, damit sie ihr Schicksal in die Hand nehmen und sich gegen die Faktoren zur Wehr setzen, die sie zu den hauptsächlichen Opfern von Katastrophen machen, nämlich Ungerechtigkeit und Armut.    

Wolf-Christian Ramm 
Pressesprecher
terre des hommes

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