Jugendliche im Visier der Polizei
In den Armenvierteln vieler brasilianischer Städte herrschen kriegsähnliche Zustände. Für Kinder und Jugendliche, die dort leben, gehört die tödliche Gewalt zum Alltag. Die Mordrate an Minderjährigen ist eine der höchsten weltweit. Ein erheblicher Teil geht auf das Konto der Polizei. Doch die Black Lives Matter-Bewegung hat auch in Brasilien Auftrieb bekommen. Der Widerstand in der Bevölkerung wächst.
Mit Kriegswaffen führen Polizisten auf staatliches Geheiß einen »Krieg gegen Drogen und Kriminelle«. Dabei nehmen sie das Gesetz oft in die eigene Hand. Allein im Jahr 2019 töteten brasilianische Sicherheitskräfte 5.804 Menschen, die meisten von ihnen waren schwarz, männlich und arm. Bei ihren Einsätzen in den Favelas gefährdet die Polizei häufig unbeteiligte Passantinnen und Passanten, oftmals auch Kinder und Jugendliche. Oder sie attackieren diese ganz direkt. Zum Beispiel drang im Mai im Stadtviertel Sapopemba in der Stadt São Paulo ein Zivilpolizist in ein Haus ein und erschoss einen 16-jährigen Jungen vor den Augen seiner Mutter und der fünf jüngeren Geschwister. Die ankommende Militärpolizei zog ihn jedoch nicht zur Verantwortung, sondern beglückwünschte ihn, berichtete die Mutter den Medien.
Juan, der erschossene Junge, war im Projekt der terre des hommes-Partnerorganisation CEDECA aktiv, wo er regelmäßig Angebote wahrnahm. Diese umfassen kulturelle, kreative und sportliche Angebote im geschützten Raum eines Jugendzentrums, dabei lernen Kinder und Jugendliche spielerisch, wie sie Konflikte ohne Gewalt lösen können. Einen anderen Ansatz verfolgt die terre des hommes-Partnerorganisation CIPO. Sie zeigt Jugendlichen in der nordbrasilianischen Stadt Salvador die Ursachen und Zusammenhänge von Gewalt auf. In einem speziellen Ausbildungsprogramm setzen sich die jungen Aktivistinnen und Aktivisten mit den historischen Wurzeln ihrer Ungleichbehandlung auseinander und lernen, sich mit friedlichen Mitteln gemeinsam gegen die Stigmatisierung der Menschen in den Favelas zu wehren.
Allerdings hat die Corona-Pandemie die Situation in den Armenvierteln deutlich verschlimmert. »Die Polizeigewalt hat seit Beginn der Pandemie stark zugenommen«, sagt Bruna Leite, die die Projekte von terre des hommes in Brasilien koordiniert. »Offenbar nutzen die Täter aus, dass sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Pandemie konzentriert und sehen das als Freibrief, um noch brutaler vorzugehen.« Wer im Armenviertel lebt, steht unter Generalverdacht, ins illegale Drogengeschäft oder andere kriminelle Aktivitäten verwickelt zu sein. Und so reicht bei einer Straßenkontrolle ein ungeschicktes Verhalten aus, damit die Polizei die Waffe zückt. Bei Gewalttaten von Polizisten werden meist beide Augen zugedrückt, es herrscht fast komplette Straflosigkeit.
Verfehlte Drogenpolitik und Straflosigkeit
Es gibt viele Ursachen für diese staatlich verursachten oder tolerierten Morde gegen die Zivilbevölkerung. Einen großen Anteil daran hat der rechtsgerichtete Präsident Jair Bolsonaro. Er legitimiert das brutale Vorgehen und stachelt die Polizei an, sämtliche »Banditen abzuknallen«. Einige Gouverneure wie Wilson Witzel aus Rio de Janeiro und João Doria aus São Paulo folgen dieser Linie, Drogenhandel und Kriminellen mit möglichst gewaltsamen Mitteln beizukommen.
Das Erbe der Sklaverei
Eine weitere Ursache für die brutale Sicherheitspolitik in Brasilien liefert ein Blick in die Geschichte. Als Brasilien im Jahr 1888 die Sklaverei abschaffte, war es das letzte Land in der westlichen Welt. Auch wenn inzwischen eine afrobrasilianische Mittelschicht herangewachsen ist, sind die Auswirkungen der Sklaverei noch immer deutlich zu spüren: Der strukturelle Rassismus und die extreme Ungleichheit zwischen der reichen, überwiegend weißen Minderheit und der oftmals in Armut lebenden farbigen Mehrheit sind enorm. In den riesigen Armenvierteln, die teilweise aus den improvisierten Siedlungen ehemaliger Sklavinnen und Sklaven entstanden sind, ist der Rechtsstaat bis heute kaum präsent. Wer aus der Favela kommt, wird nach wie vor systematisch benachteiligt. Dazu kommt spätestens seit der Militärdiktatur eine in weiten Teilen der Gesellschaft ausgeprägte Kultur der Gewalt. So löst die staatliche Gewalt gegen die Bevölkerung in den Favelas nur wenig öffentliche Empörung aus.
Deshalb braucht es zivilgesellschaftliche Initiativen wie CEDECA, die den Kindern und Jugendlichen in den Favelas Alternativen zur Gewalt aufzeigen. Dass sich der Einsatz lohnen kann, zeigt das Beispiel von CIPO aus Salvador: Nach beharrlichen öffentlichen Protesten wurden die Jugendlichen von CIPO im Parlament des Bundesstaates Bahia angehört. Sie appellierten an die Abgeordneten, eine Untersuchungskommission zu Fällen von Polizeigewalt einzurichten. Deren juristische Aufarbeitung ist ein wichtiger Schritt für eine gerechte Gesellschaft in Brasilien.
14.01.2021