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»Wir hatten so viel Hoffnung«

Interview mit Sayed Khalid Sadaat, terre des hommes-Koordinator in Afghanistan

Sayed Khalid Sadaat betreut die terre des hommes-Projekte in Afghanistan. Er lebt in Kabul, ist zurzeit aber in Indien in Sicherheit. Wir sprachen mit ihm über die aktuelle Situation, die Angst derer, die sich für Menschen- und insbesondere Frauenrechte einsetzen, und die Perspektiven der terre des hommes-Arbeit in Afghanistan.

Sayed, wie erlebst du die Stimmung in Afghanistan?

Die Menschen haben vor allem Angst. Sie wissen nicht, wie ihre Zukunft aussieht. Sie wissen nicht, welche Regeln jetzt gelten. In vielen Orten gehen die Taliban von Haus zu Haus und suchen nach Regierungsangestellten oder auch nach Mitarbeiter*innen von internationalen Organisationen. Wer sich für Frauenrechte und Menschenrechte eingesetzt hat, ist jetzt gefährdet. Jeder steht unter Schock.

Wir hatten so viel Hoffnung, vor allem die Mädchen und Frauen. Vielleicht wollten sie Ärztin werden oder Ingenieurin oder Lehrerin. Das ist jetzt aus. Ihre Zukunftsträume sind zerstört.

Die Taliban-Führer sagten, sie würden die Rechte der Frauen respektieren. Gleichzeitig gibt es Berichte über Frauen, die angegriffen oder gar getötet wurden, weil sie auf der Straße keine Burka trugen…

Es gibt sehr viele Fälle von Gewalt gegen Frauen. Die Taliban erlauben den weiblichen Angestellten der Organisationen und der Regierung nicht, zur Arbeit zu gehen. Sie halten Mädchen von Schulen und Universitäten fern. In vielen Provinzen wurden Frauen und Mädchen mit den Taliban zwangsverheiratet. All das zeigt, dass die Taliban immer noch dieselben sind wie früher.

Wie ist die Situation in den terre des hommes-Projekten?

Momentan ist alles geschlossen, die Aktivitäten sind gestoppt. In einigen Gegenden haben wir begonnen, mit den Taliban vor Ort zu sprechen. Mündlich sagen einige, sie sind einverstanden, wenn wir weitermachen. Die Gemeinden begrüßen unsere Arbeit. Die Menschen sind sehr hilfsbereit und unterstützen uns. Deshalb werden wir in den Projekten für Kinder und Männer vermutlich keine Probleme haben. Anders sieht es bei den Projekten für Frauen aus. Wenn wir Frauen und Mädchen weiter unterstützen wollen, werden wir uns an die Regeln und Vorschriften der Taliban anpassen müssen.

Die Rechte von Mädchen und Frauen sind ein wichtiger Teil der terre des hommes-Arbeit in Afghanistan…

Das stimmt. In den letzten zwei Jahren haben unsere Partner zum Beispiel mehr als 600 junge Frauen und Mädchen ausgebildet, damit sie sich ein eigenes Einkommen erwirtschaften können und nicht von anderen abhängig sind. Viele haben mit großen Hoffnungen ein kleines Unternehmen gegründet, zum Beispiel Süßwaren oder Kleidung hergestellt. Aber jetzt hat sich alles geändert. Wie es weitergeht, wissen wir nicht.

Wie geht es den Menschen in den armen Vierteln und Dörfern, in denen unsere Projekte verortet sind?

Sie haben viele Probleme: Sie haben keinen Zugang zu Lebensmitteln oder Trinkwasser. Es gibt kein Gehalt für die Regierungsangestellten. Die Preise sind stark angestiegen. Wir machen uns große Sorgen. Einige Partnerorganisationen sind dabei, Familien in besonders prekärer Lage zu bestimmen, um ihnen mit Nahrungsmitteln zu helfen.

Plant terre des hommes Projekte für Geflüchtete in den Nachbarländern?

Wir haben ein erstes Projekt in Tadschikistan gestartet. Dabei geht es um eine bessere Gesundheitsversorgung vor allem für Kinder. Wir wollen mit der Partnerorganisation Erfahrungen sammeln, um demnächst ein größeres grenzüberschreitendes Projekt mit ihr anzugehen, an dem dann auch Partnerorganisationen aus Afghanistan beteiligt werden. Außerdem wollen wir unsere afghanischen Partner von Tadschikistan aus fördern, stärken und schützen.

Wo liegen aus deiner Sicht die Fehler der internationalen Gemeinschaft und der deutschen Regierung?

Vielleicht war es nicht für jeden klar, aber die meisten Länder wussten, wie die Situation in Afghanistan ist und wie sie sich weiterentwickelt. Sie hätten eher anfangen können, den gefährdeten Menschen zu helfen. Sie hätten die Leute, die für sie gearbeitet haben, viel eher retten können vor den Taliban. Viele dieser Menschen hängen immer noch in Afghanistan fest und wissen nicht, was die Taliban mit ihnen machen werden.

Was erwartest du jetzt von der deutschen Regierung?

Deutschland und die USA müssen die Taliban unter Druck setzen, sie müssen Frauenrechte und Wahlen fordern. Und sie dürfen die Menschen, deren Leben nun in Gefahr ist, weil sie sich für Menschenrechte einsetzen, nicht im Stich lassen.

Wir wollen nicht lange im Ausland bleiben. Wir müssen und wollen unser Land aufbauen. Niemand anderes wird das tun. Aber wir brauchen Hilfe. Wir müssen eine gewisse Zeit in Sicherheit leben können, bis die Situation klarer ist. Denn momentan ist nicht klar, was den Leuten, die sich für Frauenrechte und Menschenrechte einsetzen, passieren wird.

Bitte helfen Sie! Unterstützen Sie unsere Hilfe für die Menschen in Afghanistan mit Ihrer Spende.

14.09.2021

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