»Strukturen sind nur schwer aufzubrechen«
Cynthia Xavier koordiniert das terre des hommes-Programm in Südindien. Im Interview mit Benedikt Falz spricht sie über die Herausforderungen, vor denen terre des hommes bei den Frauen- und Kinderrechten steht.

Wie ist das Verhältnis der indischen Gesellschaft zu den Rechten von Kindern?
In den Arbeitsbereichen von terre des hommes lässt sich schon eine höhere Akzeptanz feststellen. Zum Beispiel setzt sich langsam die Einsicht durch, dass das Recht auf Schulbildung wichtig ist, und dass Mädchen genauso wie Jungen das Recht auf höhere Bildung und auf körperliche Unversehrtheit haben. Das theoretische Konzept des Kinderrechts verstehen viele nicht, aber in vielen Regionen ist es nun akzeptiert, dass Mädchen auch bis zum Alter von 18 Jahren zur Schule oder anschließend auf ein College gehen.
Was ist der Grund für diese positiven Tendenzen?
Diese Entwicklung ist erst in den vergangenen Jahren entstanden, auch weil die Partnerorganisationen von terre des hommes daran gearbeitet haben. Das kann man sich nicht wie ein einzelnes Projekt vorstellen, das nach drei Jahren plötzlich den großen Erfolg verbucht. Vielmehr brauchte es eine Menge an Strategie und Organisation zwischen den einzelnen Organisationen und Programmen. Wir mussten die Menschen davon überzeugen, dass es Mädchen besser geht, wenn sie nicht früh heiraten und ungelernt arbeiten.
War gerade das Verheiraten von Kindern nicht immer ein großes Problem in den ländlichen Gebieten Indiens?
Die Zahl der Kinderheiraten ist stark zurückgegangen. Das lässt sich auch auf die Arbeit unserer Partnerorganisationen zurückführen. Beispielsweise haben wir im Bundesstaat Karnataka zuletzt 84 private Eheschließungen von Minderjährigen und 124 Kinderheiraten in Massenhochzeiten verhindert. Im Vergleich zur Situation von vor sechs Jahren belegen diese Zahlen einen deutlichen Fortschritt. Viele Organisatoren von Massenhochzeiten lassen unsere Partnerorganisationen inzwischen die Papiere der Brautpaare sichten.
In den Dörfern haben viele verstanden, dass die Heirat zwischen Kindern illegal ist. Doch wenn unsere Projektaktivitäten in der Region aufhören, ist es keinesfalls garantiert, dass die Menschen nicht wieder in alte Gewohnheiten zurückfallen. Das südliche Indien ist sehr konservativ und Strukturen sind dort nur schwer aufzubrechen. In der Praxis braucht die nachhaltige Durchsetzung der Kinderrechte noch viel Unterstützung von uns.
Gibt es Beispiele für besonders erfolgreiche Projekte?
Besonders am Herzen liegt mir das Projekt, das unsere Partnerorganisation RLHP (Rural Literacy and Health Programme) in der Stadt Mysore durchführt. Hier leben viele Menschen auf der Straße, deren Kinder später als Bettler enden. RLHP hat viele Kinder in ein Projekt aufgenommen. Die Mädchen und Jungen leben in einer Einrichtung auf dem Land und lernen nachhaltige, organische Landwirtschaft. Sie haben verschiedene Lehreinheiten, beispielsweise organisches Kompostieren oder Regenwassernutzung. Wir haben mit 20 Kindern angefangen, und nach zwei Jahren sind sie nun selbst in der Lage, andere zu unterrichten und den Kleinbauern Tipps zur nachhaltigen Landwirtschaft zu geben. Dies macht das Projekt besonders nachhaltig.
Indien stand in den letzten Jahren vor allem wegen der Situation von Frauen im Fokus. Hat sich hier etwas getan?
Es gibt Fortschritte, aber eben auch große Hindernisse. Wir arbeiten vor allem daran, die gängige Mitgiftpraxis einzudämmen: Für ihre Mitgift müssen sich die Familien der Braut oft verschulden. Das ist zwar verboten, doch in vielen Teilen Indiens immer noch weit verbreitet. Schon 14-jährige Mädchen sind deshalb gezwungen, für ihre spätere Mitgift arbeiten zu gehen. Im Bundesstaat Tamil Nadu hat sich in der Textilindustrie das sogenannte Sumangali-System entwickelt. Das Wort »Sumangali« bedeutet auf Tamil »Braut« und »die Wohlstand bringt«. Junge Mädchen werden für drei Jahre angestellt und bekommen fast das ganze verdiente Geld erst am Ende der Arbeitsfrist. Mit dem Geld, so versprechen die Betriebe, können junge Mädchen ihre Mitgift aufbringen.

Doch sie erhalten meist nur 50.000 Rupien, was nur 1.000 Euro für mehrere Jahre Arbeit entspricht und weit unter dem indischen Mindestlohn liegt. Verlassen sie die Arbeitsstelle früher, bekommen sie kaum mehr als einige wenige Rupien für ihre Arbeit. Die Arbeitsbedingungen sind katastrophal, und die jungen Frauen sind gezwungen, die Verträge über mehrere Jahre einzuhalten, was ihre komplette wirtschaftliche Ausbeutung bedeutet. Dies gilt international als eine der schlimmsten Formen der Kinderarbeit.
Auf welche Weise engagiert sich terre des hommes in diesem Bereich?
Unsere Partnerorganisationen Care Trust, Don Bosco Nest oder ROSE Machen hier sehr viel. Beispielsweise leistet ROSE in ländlichen Regionen, aus denen viele Mädchen in die Textilbetriebe geschickt werden, viel Aufklärungsarbeit und wirbt für Bildung und Ausbildung. In Indien ist der Glaube weit verbreitet, dass Frauen nur in wenigen Berufsfeldern arbeiten können. Während Jungen oft Handwerksberufe oder akademische Berufe erlernen, traut man Mädchen nur zu, im Haushalt, der Textilbranche und Krankenhäusern zu arbeiten. ROSE versucht deshalb, diese geschlechtsspezifischen Barrieren zu durchbrechen und Mädchen auch für technische Berufe zu qualifizieren, in denen sie mehr Geld verdienen können.
Gibt es in Indien ein Bewusstsein für dieses Problem?
Viele Inder erwarten immer noch, dass die Frau für die Heirat und ihre Mitgift aufkommen muss. Allerdings sehen auch viele ein, dass dies an die Bildung und den Beruf und damit an das Einkommen der Braut gekoppelt ist. Frauen, die selbst ein gewisses Einkommen haben, stehen viel besser da und haben in den Verhandlungen rund um die Eheschließung ein Mitspracherecht.
Wenn die Frau einen guten Beitrag zum Haushaltseinkommen leisten kann, ist die Familie des Bräutigams eher gewillt, sich an den Kosten für eine Hochzeit zu beteiligen. Unsere Partner arbeiten daran, die Bildungschancen von jungen Mädchen zu erhöhen. Nur so haben sie die Chance auf eine gleichberechtigte Partnerschaft mit ihrem Ehemann.
Welche Herausforderungen sehen Sie für die kommenden Jahre?
Vornehmlich wollen wir uns dafür einsetzen, dass die Sumangali-Wirtschaft abgeschafft wird und dass wir Mädchen daran hindern, in dieses System einzutreten. Auch werden wir uns darauf konzentrieren, das Recht auf Bildung und auf eine gesunde Umwelt in der ganzen Region zu stärken. Wir wollen erreichen, dass sich noch mehr Kinder und Jugendliche aktiv dafür einsetzen – auf lokaler Ebene, aber auch in regionalen und überregionalen Netzwerke.
1.6.16