Adriana Lisboa: Der Sommer der Schmetterlinge
Aufbauverlag 2013
284 Seiten, 19,99 €
ISBN-13: 9783351035372
ISBN-10: 3351035373
Auch als eBook erhältlich
Brasilien war 2013 Gastland auf der Frankfurter Buchmesse. Aus diesem Anlass sind auch einige bisher hierzulande unbekannte brasilianische Autorinnen ins Deutsche übersetzt worden. So auch der Roman von Adriana Lisboa, der in Brasilien 2001 erschienen ist. Die Autorin führt uns in die Zeit der Diktatur in Brasilien. Die beiden Schwestern wachsen im Landesinneren des Bundesstaats Rio de Janeiro auf der Fazenda ihrer Eltern auf. Der bedrückenden Atmosphäre entfliehen sie in eine eigene Welt, bis sie ins Internat gebracht werden. Hinter der harmonischen Oberfläche lauern Familiengeheimnisse, über vieles darf nicht gesprochen werden, auch nicht über Gewalt und Diktatur. Erst als sie erwachsen sind, können sich die Schwestern mit Schönheit und Schrecken ihrer Kindheit auseinandersetzen, einer Kindheit, die auf den großen Ländereien nicht ungewöhnlich war und deren Licht und Schatten auch heute noch prägend sind.
Viele Themen sind Tabu
Im Sommer der Schmetterlinge ist Clarice 13, ihre Schwester Maria Inés neun Jahre alt. Maria Inés begeistert sich für die verbotenen Dinge und Spiele und verbringt viel Zeit mit ihrem Cousin im alten Steinbruch, von dessen Rand sich die Schmetterlinge hinabzustürzen scheinen. Für Clarice ist die Schwester zu draufgängerisch, sie ist eher ängstlich und folgsam. Die Schwestern verleben mit ihrem Cousin und einigen befreundeten Kindern aus dem Dorf einen weiteren scheinbar unbeschwerten Sommer auf dem Land. Das Leben auf dem elterlichen Gutshof, der weder besonders klein noch besonders groß ist, weder prachtvoll noch ärmlich, lässt den Kindern viel Freiheit, sich zu erproben und zu entwickeln.
Zu Hause allerdings herrschen strenge Regeln. Der Steinbruch ist verboten, viele Themen sind tabu, die des täglichen Lebens genauso wie die politischen Themen während der Zeit der Militärdiktatur. Es wird wenig gesprochen, das meiste nur angedeutet, das Leben auf der Fazenda bedeutet vor allem Stille. Die Eltern sind nicht in Liebe, sondern in Gewöhnung, Schweigen und Konvention verbunden. Für Maria Inés ist jener Sommer der Sommer der Leichtigkeit, für ihre Mutter der Sommer ihrer beginnenden Krankheit, für Clarice der Sommer des Schreckens und für den Vater der Sommer der Grenzübertretung.
Es herrscht das Gesetz des Schweigens
Die kleine María Inés erlebt den Kindesmissbrauch. Als sie den Vater auf ihrer Schwester liegen sieht, bricht ihre Sommerwelt zusammen. Das Familiengesetz des Schweigens lastet weiter auf allen. Weiterhin konnten die Dinge existieren, sie durften jedoch nicht benannt werden. Die Mutter entscheidet, Clarice zur Großtante nach Rio de Janeiro zu schicken. Zu spät, um sie wirklich zu retten. Für Clarice wirkt die gefährliche Normalität wie eine Krankheit.
Das weitere Leben beider Schwestern bleibt an die Kindheitserfahrungen gebunden. Für Clarice ist die Erinnerung wie Säure, die sie zerfrisst. Würde die beschädigte Kindheit in der Erinnerung ausgelöscht werden und zur Normalität zurückfinden?
Das ist die Frage, die der Roman aufspürt. So unterschiedlich die Lebenswege der Schwestern auch sind, sie bleiben an das Geschehen im Sommer der Schmetterlinge gebunden und finden auch untereinander keinen Weg, das Schweigen zu überbrücken. Erst als die Eltern tot sind, erst als beide, die scheinbar erfolgreiche Maria Inés und die durch die Hölle von Alkohol, Drogen und Selbstmordversuch gebrochene Clarice ihr Leben nicht mehr in den Griff bekommen, können sie sich im Elternhaus begegnen und das Schweigen überwinden.
Lisboa greift Themen des Alltags auf
Adriana Lisboa greift in ihrem Roman Themen auf, die auch heute noch große Bedeutung im Alltag Brasiliens haben. Dass Väter ihre Kinder missbrauchen, dass Ehemänner eine Geliebte haben, dass Männer ihre Homosexualität mit einer Ehe kaschieren, über all das wird noch immer wortlos der Schein bürgerlicher Anständigkeit ausgebreitet. Das Schweigen über die häusliche Gewalt ist für die Autorin auch das Schweigen über Folterungen und Morde in der Zeit der Militärdiktatur. Ein Schweigen, das nie bewusst beendet wurde.
Fazit: Der Autorin ist ein bewegender, spannend und einfühlsam geschriebener Roman gelungen. Wir gehen mit den Kindern, den Jugendlichen, den jungen Frauen mit und verstehen gleichzeitig, welche Lasten die Vergangenheit dem Brasilien von heute aufbürdet.
Monika Huber
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