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Juan Gabriel Vásquez: Das Geräusch der Dinge beim Fallen

Verlag: Schöffling 2014 293 Seiten, € 22,95
ISBN-13: 9783895610080
ISBN-10: 3895610089

Im Jahre 2009, kurz vor seinem 40. Geburtstag, beschließt Antonio Yammara, der Ich-Erzähler des Romans, die Geschichte seiner kurzen Bekanntschaft mit Ricardo Laverde niederzuschreiben. Antonio war Jugendlicher, als Pablo Escobar, der mächtigste Drogenhändler Kolumbiens, in den 80er Jahren den Kampf gegen alle, die ihm in die Quere kamen, aufnahm. Politische Morde, gewollte Flugzeugabstürze, Bestechung von Polizei, Justiz, Politikern waren an der Tagesordnung. Antonio weiß davon, aber er ist jung, und der Tod Pablo Escobars liegt schon einige Jahre zurück.

Dass er mit 26 schon Juraprofessor geworden ist, verblüfft ihn, seine Lehrtätigkeit macht ihm aber auch große Freude. Im Salon, in dem Antonio regelmäßig Billard spielt, taucht eines Tages Ricardo Laverde als Mitspieler auf, ein schmaler blasser Mann mittleren Alters, äußerst schweigsam, jedoch ein guter Spieler. Er sei 20 Jahre im Gefängnis gewesen, wird erzählt, wenn man auch nicht wisse, warum.

Das Geheimnis
Ein Geheimnis umgibt Ricardo, und das zieht Antonio an. Wie die beiden allmählich mehr miteinander sprechen, wie Ricardo gelegentlich etwas aus seinem Leben erzählt und sich Antonio immer mehr für ihn interessiert - es gelingt Juan Gabriel Vázquez, die Spannung beim Leser steigen zu lassen, so dass man unbedingt weiterlesen muss. Schließlich erfährt Antonio, dass Ricardo auf die Ankunft von Elena Fritts, seiner Frau aus den USA, wartet und hofft, dass sie länger bleibt, und dass Ricardos Beruf Pilot ist. Ricardo, etwas angetrunken, erklärt, dass er durch einen riesigen Fehler, nicht etwa durch eine Dummheit wie Fremdgehen, Elena verloren hat, dass er nun aber wieder alles gut machen wolle und hoffe, dass sie dazu bereit sei. Ricardo will weitersprechen, Antonio entscheidet sich aber zu gehen und fragt sich später immer wieder, was es geändert hätte, wenn er in jener Nacht geblieben wäre.

Ricardo sah er lange nicht wieder, es hieß, er sei verreist. Weihnachten verstreicht. Als sie sich am ersten Werktag des neuen Jahres wiedersehen, würde Antonio gerne fragen, wie die Zeit mit Elena war. Ricardo aber will eine Kassette hören, Antonio begleitet ihn in ein Studio und versinkt selbst mit Kopfhörern in der Stimme einer bekannten Sängerin. Als er aufschaut, ist Ricardo gegangen. Er verlässt das Studio, sucht ihn, sieht ihn, holt ihn ein. Ein Motorrad, das vorher auf dem Bürgersteig gestanden hatte, fährt los, hält auf Ricardo Laverde zu, Antonio packt Ricardo am Ärmel, aber der Schuss trifft Ricardo und auch Antonio. Ricardo ist tot, Antonio ist auch getroffen und verliert das Bewusstsein.

Eine wichtige Entscheidung
Bewusstlosigkeit, Dämmerschlaf, immer wieder Operationen und die quälende Frage, warum auf Ricardo geschossen wurde, bestimmen fortan das Leben von Antonio. Und sein Versagen im Tonstudio, sein Versagen seiner Freundin gegenüber, seiner inzwischen geborenen Tochter, seinen Studenten gegenüber. Die Kassette, die letzten Worte Ricardos, dass seine Frau Elena in dem Flugzeug gewesen sei, all dies geht Antonio nicht mehr aus dem Kopf.

Er trifft eine Entscheidung gegen die sich in ihm ausbreitende Hoffnungslosigkeit und geht auf die Suche, auf die Suche nach dem Tonband, auf die Suche nach dem Leben Ricardo Laverdes, auf die Suche nach dem Warum. Er findet schließlich die Tochter Ricardo Laverdes und fährt zu ihr aufs Land, wo sie Bienen züchtet. Maya Fritts erzählt ihm die Geschichte ihrer Mutter Elena Fritts und Antonio erzählt Maya, was er herausgefunden hat.

Dieser zweite Teil des Buches führt in die 70er Jahre zurück, als sehr junge Freiwillige des Peace Corps auch nach Kolumbien kamen, um für soziale Verbesserungen angesichts fortdauernder Ungerechtigkeiten und Armut zu sorgen. Ein Versprechen, das der kolumbianische Staat bis dahin nicht eingelöst hat. Elena Fritts kommt  als junges Mädchen 1970 nach Bogotá. Nach Vorbereitungskursen und der Mitarbeit in anderen Projekten landet sie schließlich in La Dorada am Rio Magdalena, einem Gebiet, wo in den 70er Jahren auch der Coca-Anbau intensiviert wurde und Drogenhändler Fuß fassten und sich die Durchsetzung von Interessen mit Waffengewalt ausbreitete.

Der Coca-Deal
Elena Fritts gelingt es, Vertrauen aufzubauen und mit den Dorfältesten zusammen kleine Maßnahmen zur Verbesserung des Lebens auszuhecken. Sie lebt dort zunächst mit Ricardo Laverde, ihrem Mann, und zunächst meistens arbeitslosen Piloten. Später ist er sehr gefragt und nur noch selten in La Dorada.  Ein Peace-Corps-Kollege und anfangs fröhlicher, später zynischer Freund beginnt zunächst heimlich mit der Beratung der Bauern im Cocaanbau und steigt dann etwas größer in den Handel ein. Ricardo Laverde wird angeheuert, seine Touren werden immer verwegener und gefährlicher. Eines Tages kommt er nicht zurück. Elena ahnt mehr als sie weiß.   Als sie Lügen entdeckt, der Freund umgebracht wird, verlässt sie die Finca und kehrte nach Bogotá und einige Zeit später schließlich in die USA zurück. Ihre Tochter Maya bleibt und geht dann in den 90ern, als das wieder möglich ist, nach La Dorada zurück und beginnt mit Bienenzucht.

Alles was sie Antonio erzählt, hat sie sich aus den Briefen ihrer Mutter erschlossen. Auch sie hat schließlich das Tonband, auf dem das Gespräch der letzten Minuten zwischen Pilot und Copilot vor dem Absturz zu hören ist, finden können. Elena, ihre Mutter, hat den Flug angetreten, um Ricardo Laverde in Bogotá wiederzutreffen. Mit der Schilderung des Lebens von Elena und Ricardo, ihrer Liebe, ihrer Trennung, ist dem Autor ein bewegendes Zeugnis jener Jahre der zunehmenden Gewalt gelungen, die schließlich auch die Macht und Grausamkeit von Pablos Escobar hervorgebracht und in die Gemengelage der Gewalt zwischen Guerilla, Armee, paramilitärischen Gruppen und Drogenkartellen geführt haben.

Der verlassene Zoo
Beide, Maya und Antonio, müssen erkennen, dass diese Zeit ihr Leben mehr geprägt hat, als ihnen bislang klar war. Antonio bleibt und gemeinsam besuchen sie den verlassenen Zoo der Hacienda Nápoles, von der aus Pablo Escobar operiert hat. Beide erinnern sich, dass sie als Jugendliche nicht hinfahren  durften, ihn aber heimlich besuchten, weil es dort unfassbar viele, sehr große und seltene Tiere gab. Ricardo habe, fällt Antonio wieder ein, zu Beginn ihrer Bekanntschaft Mitleid mit den Tieren geäußert, die, nach der Auflösung der Hacienda Nápoles, einfach ihrem Schicksal überlassen worden seien.

Ricardo, der Drogenpilot, Elena, die Freiwillige, die damals nichts von seiner Verhaftung erfuhr und sich nun auf den Weg machte, ihn und ihre Tochter zu besuchen, und abstürzte. Maya, die das Haus ihrer Kindheit bewirtschaftet – gespannt verfolgt die Leserin ihre Beziehungen, ihre Verwicklungen in das Zeitgeschehen und ihre individuellen Versuche, mit dem eigenen Leben klarzukommen. Antonio, das zufällige Opfer des Mordes an Ricardo, wird in das Geschehen hineingesogen und an ihm wird deutlich, dass die kolumbianische Gesellschaft nicht einfach einen Schlussstrich ziehen kann und dass bei all dem Leid, der Frieden, der endlich gefunden werden soll, nicht leicht zu erringen ist.

Erschöpft, aber voller Vorfreude auf das Wiedersehen mit seiner Freundin und seiner Tochter kehrt Antonio nach Bogotá zurück. Er wird sein Leben alleine bewältigen müssen.

Juan Gabriel Vásquez, 43 Jahre, ist einer der herausragenden jüngeren Autoren Lateinamerikas, die sich literarisch anspruchsvoll und zugleich genau und spannend mit zeitgeschichtlichen Themen auseinandersetzen. Dem Roman wünscht man eine große Leserschaft.  



Rezension: Monika Huber


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