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Hérnan Rivera Letelier: Die Filmerzählerin

Insel Verlag Taschenbuch, Frankfurt / Main
2012, 105 Seiten, 7,99 Euro




Hérnan Rivera Letelier
Der Traumkicker
Insel-Verlag, Frankfurt / Main 2012
206 Seiten, 17,95 Euro

Die knappe lakonische Schilderung  einer entbehrungsreichen Mädchenkindheit in einer Salpetersiedlung in Chile hat Hernán Rivera Letelier bei uns bekannt gemacht. Sein früherer Roman »Der Traumkicker« ist daraufhin noch in diesem Jahr in Deutschland erschienen. »Die Filmerzählerin« und »Der Traumkicker« erzählen vom Leben in den Salpetersiedlungen in der Atacameswüste im Norden Chiles, den Entbehrungen und den Erfahrungen alltäglicher Gewalt. Sie beschreiben den Widerhall der Militärdiktatur Chiles in den Siedlungen und der Trauer über das Verschwinden der Siedlungen, wenn die Rohstoffe in den Minen aufgebraucht sind oder Minen wegen der rückläufigen Nachfrage von den Besitzern aufgegeben werden.
Salpeter war lange Zeit unverzichtbar für die Dünger- und Sprengstoffherstellung und damit ein wichtiges Ausfuhrgut Chiles. Heute ist die Nachfrage klein, aber es gibt sie noch, die in die Wüste gebauten Siedlungen am Rand der Mine, in denen das Leben um die Mine und um Salpeter kreist. Siedlungen, heiß und schattenlos. Man erinnert sich meist an die Bilder gut organisierter Arbeiter in den Kupferminen der Wüste. Man erinnert sich an die Berichte über die Militäraktionen der Pinochetdiktatur gegen die Minenarbeiter und an die Konzentrationslager in der Wüste. Nun aber erzählt uns Hernán Rivera Letelier über den Alltag in den Salpetersiedlungen, einmal aus der Perspektive eines jungen Mädchens, einmal aus der Perspektive Jugendlicher.

Maria erzählt
In »Die Filmerzählerin« berichtet  Maria Margarita als Dreizehnjährige über die vergangenen drei Jahre ihres Lebens in der der Siedlung. Ihre Familie besteht aus dem seit einem Arbeitsunfall in der Mine gelähmten Vater und den vier Brüdern. Die Mutter hat nach dem Unfall des Vaters die Familie verlassen, und nun gibt es für alle nur die kleine Rente des Vaters. Die Familie kann es sich nicht mehr leisten, gemeinsam ins einzige Kino am Ort zu gehen, sondern muss jemanden in der Familie bestimmen, der für alle ins Kino geht und die Filme zu Hause erzählt. Zur Überraschung aller wählt der Vater Maria aus und nicht einen ihrer Brüder. Sie erzählt in Ich-Form, wie sie ihre Erzählkünste allmählich vervollkommnet, wie zunächst die Bekannten, dann immer mehr Besucher aus dem Dorf zu den Erzählabenden kommen, wie sie in die Rollen schlüpft, wie sie schließlich auch Details hinzuerfindet, um die einzelnen Figuren spannender zu machen, wie sie in die Rollen der Schauspieler schlüpft und sich schließlich auch verkleidet. Man kann sie auch für zu Hause buchen. In den 44 sehr knappen Kapiteln, die manchmal nur zwei Seiten lang sind, beschreibt sie, wie sie sich ihrer Gabe immer bewusster wird, aber auch wie sie immer klarer die Verhältnisse zu Hause und in der Minensiedlung sieht: Alkohol, Gewalt, die »Anwesenheit« der abwesenden Mutter, das Auf-Sich-Allein-Gestellt-Sein eines Kindes, das zu früh Verantwortung übernehmen muss. All das erfahren wir in sachlicher Kürze. Manchmal nimmt es einen den Atem, wie wenig die Ich-Erzählerin ihre Gefühle zum Ausdruck bringt. »Sie ist doch noch ein Kind«, denkt man. Zugleich aber folgt man atemlos der Zuspitzung der Handlung und möchte Maria vor der Vergewaltigung, der Gewalt, dem Zerfall der Familie und dem Schmerz der nochmaligen Begegnung mit ihrer Mutter bewahren. Dem Autor gelingt es, uns die Atmosphäre in diesen Wüstensiedlungen in den 70er und 80er Jahren nahezubringen. Die Militärdiktatur ist präsent und zugleich fern, man versteht, welche sozialen Probleme auch in dieser Gegend die Menschen Anfang der 70er Jahre auf Allende und sein Sozialprogramm hoffen ließen. Hernán Rivera schreibt heute darüber, es ist, als wolle er, dass seine Heimat – auch er ist in einer Salpetersiedlung aufgewachsen – dem Vergessen entrissen wird.

Fußballversessen
Humorvoll beschreibt er in »Der Traumkicker«, wie sich eine Gruppe junger Männer noch einen Traum erfüllen will, bevor die Siedlung endgültig verlassen werden muss. Hier wird aus der Perspektive einer der jungen Männer erzählt. Seinen Namen erfahren wir aber nicht. Fußballversessen sind nicht nur die jungen Männer, sondern auch einige Ältere und einige Frauen. Alle träumen von einem Sieg über die Fußballmannschaft des Nachbarortes bei einem letzten Spiel, obwohl die vorhergegangenen Spiele alle verloren wurden. Einmal noch möchte man gewinnen, und im Buch begleiten wir die Bewohner von Coya Sur die Woche vor dem entscheidenden Fußballspiel. Alle  sind sich einig, dass auf dem Fußballfeld die besten und schlechtesten Seiten des Menschen zutage treten. Edelmut, Kühnheit, Anstand, aber auch Feigheit, Arroganz und Hinterhältigkeit konnten bei den Einzelnen zum Vorschein kommen. Und so handelt der Roman nicht nur vom Fußball, sondern von den Freundschaften, den Feindschaften, den Hoffnungen und Enttäuschungen in der Siedlung, die in naher Zukunft platt gewalzt werden soll.

Zusammenhalt, Solidarität und Phantasie
»Es tut sehr weh, den Ort zu verlassen, den man sich über Jahre zur Heimat gemacht  hat, und liegt er auch in einer der lebensfeindlichsten Gegenden der Welt …«.  Der Leser sieht die flirrende Hitze vor sich, die um sich greifende Mutlosigkeit und freut sich mit den Fußballfans, dass offenbar ein Fußballprofi eine Woche vor dem entscheidenden Spiel in der Siedlung auftaucht. Verständlich, dass sich alle Hoffnungen auf ihn richten. Er wird umworben, gehätschelt, sein Geheimnis und das seiner Begleiterin aber erst auf den letzten Seiten gelüftet. Man fiebert mit, man hofft, dass Mut und Kühnheit trotz fehlenden Trainings und viel Alkohols ausreichen, um das Spiel zu gewinnen. Hernán Rivera zeichnet die einzelnen Akteure liebevoll. Und trotz aller Konflikte in der Siedlung spürt man den Zusammenhalt, die Solidarität, die Fantasie im Alltag, die das Leben auch unter so schweren äußeren Bedingungen lebenswert machen.

Von allen Personen sei hier Cachimoco Farfán, der Radioreporter von Coya Sur besonders erwähnt. Seine Reportage des Fußballspiels, das am 2. November (Allerseelen) stattfindet, ist in den Roman eingestreut. Farfán ist bekannt für seine Reportagen zwischen Wahnsinn, Unsinn und Tiefsinn. Und für dieses Spiel läuft er zur Hochform auf. Die Reportagen im Roman sind großer Lesegenuss! Mit dem erhofften Messias, dem »Traumkicker« geht es auch auf den Friedhof, schließlich handelt es sich um die Tage um Allerheiligen. Es wird deutlich, wie sehr es schmerzt, den Friedhof verlassen zu müssen und die Toten zurück zu lassen.

Friedhof und Elfmeterpunkt
»Und wenn man ein bisschen Glück hat und außerdem eine Ahnung, wonach man sucht, dann kann man sogar die Stelle finden, wo einmal der Elfmeterpunkt vor dem Westtor gewesen ist. Denn auch wenn die Zeit sich nicht aufhalten lässt, die Jahre langsam und unerbittlich vergangen sind, leuchtet dieser Punkt noch immer weiß in der Wüstensonne, weil die Menschen, die an jedem ersten November zum Friedhof pilgern, ihn suchen, dort für ein Foto im Kreis von Enkeln und Urenkeln in die Hocke gehen und ihn danach mit Tränen in den Augen neu markieren, andächtig Salpeter oder Kalk darauf streuen (die Frauen ihr Puder), damit der Ort niemals vergessen werde …“
Aber vorher erfahren wir die Tragödie des Traumkickers, erfahren wir, dass Coya Sur gewinnt und sich einige ganz herausragend verhalten. Auch wer kein Fußballfan ist, wird sich über den Einfallsreichtum und die List der Protagonisten freuen und den Roman mit einem Seufzer der Erleichterung, dass Menschen so viel einfällt, um Armut und Gewalterfahrungen zu begegnen, weglegen.

Hernán Rivera Letelier wurde 1950 in Talca/Südchile geboren. Als Kind kam er in die Atacamawüste und lebte in verschiedenen Salpetersiedlungen. Dort las er sich durch die Werksbibliotheken und nahm an Gedichtwettbewerben teil. Nach der Rückkehr ausgedehnter Reisen durch Bolivien, Peru und Ecuador kehrte er nach Antofagasta zurück und machte seinen Schulabschluss. Er hat den verschwundenen Salpetersiedlungen mit seinen Büchern ein Denkmal gesetzt. Außer den hier rezensierten Büchern gibt es nur noch »Lobgesang auf eine Hure« von 1994 in Deutsch.


Rezension: Monika Huber

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