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Michi Strausfeld (Hg.): Schiffe aus Feuer

36 Geschichten aus Lateinamerika
S. Fischer Frankfurt (Main) 2010



Lateinamerika hat viele große Schriftsteller hervorgebracht. Noch immer werden die Romane, Erzählungen und Gedichte von Gabriel Garcia Marquez, Mario Vargas Llosa, Alejo Carpentier,  Jorge Luis Borges, Juan Carlos Onetti, Pablo Neruda oder Octavio Paz, um nur einige zu nennen, gelesen. Lateinamerika hatte sich innerhalb kurzer Zeit an die Spitze der Weltliteratur geschrieben. Die Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Diese Autoren haben uns gleichermaßen häufig in eine dörfliche Welt mit skurrilen Figuren und reichhaltigen Geschichten versetzt und ihren Finger in die Wunde der großen Ungerechtigkeiten und Gegensätze in Lateinamerika gelegt.

Vielfältiges Themenspektrum
Michi Strausfeld kommt das Verdienst zu, uns bekannt zu machen mit den heutigen Autoren aus dem spanischsprachigen Lateinamerika. Im Sammelband »Schiffe aus Feuer« wird uns vorgeführt, wie breit das Spektrum an Themen ist, das jüngere Autoren heute aufgreifen und wie vielfältig auch die sprachliche und formale Ausgestaltung der Geschichten ist. Liebe, Tod, Freundschaft, Verrat, biografische Erlebnisse, das alles wird wie überall in der Literatur bearbeitet. Aber die großen Veränderungen in Lateinamerika der letzten Jahrzehnte sind ebenso zu finden. Zum einen greifen die Autoren wesentliche gesellschaftliche Veränderungen auf, zum Beispiel das  explosionsartige Wachstum der großen Städte, den Zerfall der Familienstrukturen, den Umbau des Wertesystems, zum anderen arbeiten gerade die jüngeren Autoren die Erfahrungen von Diktatur, Bürgerkrieg und Menschenrechtsverletzungen aus den 70er und 80er Jahren in ihre Romane und Erzählungen ein.

Der Sammelband hat das Verdienst, dass er auch Geschichten von Autoren aufgenommen hat, die in Deutschland noch nicht übersetzt und daher sehr wenig bekannt sind, obgleich sie zum Teil in Lateinamerika schon einen großen Leserkreis haben. Außerdem kommen in dem Sammelband auch viele Autorinnen zu Wort.

Von Riesen und Drogenbossen
Jorge Franco aus Kolumbien setzt in der Erzählung »Wo erzählt wird, wie ich Don Quijote von der Mancha in Medellin begegnete, als sich die Stadt mit erfundenen Riesen füllte« seinem Großvater ein Denkmal. Der Abschied vom Großvater, das Ende der Jugend, der Neuanfang der Liebe, das ist kunstvoll miteinander verwoben und berührend erzählt. Mit den Riesen im Titel der Geschichte sind die Drogenbosse, die Menschenhändler, die Gewalttäter gemeint, die zu dieser Zeit das Leben in Medellin vollständig veränderten, aber auch die Gier nach Geld und Reichtum in den Bewohnern der Stadt. Der Großvater kehrt nicht zurück, der Ich-Erzähler wird 18, liebt und versteht.

Von Daniel Alarcón, dessen Buch »Lost City Radio« ebenfalls in unseren Medientipps besprochen wird (siehe hier), ist im Sammelband ein Kapitel seines jetzt auf Deutsch erschienenen Buches »Stadt der Clowns« abgedruckt. Dieses Kapitel beschreibt das Abdriften eines Jugendlichen in Gewalt, das beginnende Nachdenken über die Logik der Gewalt in einer Jugendbande. Man darf gespannt auf das Buch sein.

Kinder auf  einer Mülldoponie
Das Schicksal von Kindern, die in einer Mülldeponie spielen, greift Claudia  Amengual aus Uruguay in »Das Abwasserrohr« auf.  Ein eigentlich abgebrühter Journalist lässt sich hineinziehen in das Drama, das sich am Müllberg einer Stadt abspielt, und gibt am Ende seine professionelle Distanz auf und versucht, bei der Suche nach den Verunglückten mitzuhelfen. Das ist außerordentlich spannend geschrieben. Die Spannung kommt aus dem Zusammenprall der so unterschiedlichen Lebenswelten und dem Prozess des Sich-Einlassens des Journalisten, der eindrücklich beschrieben wird.

Alltag der Gewalt
Gewalt ist auch als alltägliche Erfahrung ein Hauptthema der Autoren. Viele Geschichten handeln von männlicher Gewalt, von Gewalt gegenüber Kindern, von Vergewaltigung; Kindheit scheint in vielen Ländern und Schichten auch heute noch eine sehr risikoreiche Lebensphase zu sein, Schutz nicht vorhanden. In der Geschichte »Der Liebesheiler« von Washington Cucurto aus Argentinien bekommt die alltägliche Situation, dass ein Mann von seiner jungen Geliebten die Abtreibung fordert und sie zu einem »Heiler« bringt, eine überraschende Wendung, denn auch der Mann muss schließlich höllische Schmerzen erdulden, um zu verstehen.

Das Buch ist ein Sammelband von Erzählungen, und so bleiben politische und alltägliche Gewalt, traumatische Kindheitserfahrungen, das Nichtverstehen zwischen Menschen nebeneinander stehen. Notwendigerweise. Aber für den Leser ergibt sich doch ein Mosaik, er ahnt, dass er mit den kleinen Geschichten Wesentliches über die Gesellschaften erfährt, in denen sie spielen.

Nicht alle Geschichten in dem Sammelband fesseln gleichermaßen, aber es sind viele Autorinnen und Autoren dabei, von denen man gerne mehr in deutscher Übersetzung lesen würde. Auf jeden Fall gibt es wieder Autoren, die sich an gesellschaftspolitische Stoffe wagen und zeitgeschichtliche Ereignisse in spannende Literatur zu fassen wissen. Zu beurteilen, wer schon an die Altmeister der lateinamerikanischen Literatur heranreicht, bleibt dem Leser überlassen.

Am Schluss des Buches werden die einzelnen Autoren kurz beschrieben, und der Leser nimmt interessiert zur Kenntnis, dass einige Autoren außerhalb ihres Landes leben und mit Abstand und bereichernder Außensicht ihre Geschichten schreiben.
 

Michi Strausfeld ist Hispanistin, Romanistin und Anglistin. Sie hat sowohl für den Suhrkamp-Verlag als auch für den S.Fischer-Verlag Anthologen und Erzählbände herausgegeben. Sie lebt in Berlin und Barcelona. In dem hier rezensierten Band Schiffe aus Feuer macht sie den Leser mit vielen lateinamerikanischen Autorinnen und Autoren bekannt, deren Werke bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden sind.


Rezension: Monika Huber

Ein Übersicht aller bisher besprochenen Bücher finden Sie auf unserer Seite »terre des hommes-Medientipps«.

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