Bachtyar Ali: Der letzte Granatapfel
Unionsverlag
352 Seiten
Preis: € 22.00
ISBN 978-3-293-00499-3
Der Autor Bachtyar Ali schreibt in Sorani, der kurdischen Sprache des Südiraks. Das könnte einer der Gründe sein, warum das 2002 erschienene Buch des seit Mitte der 90er Jahre in Deutschland lebenden Autors erst jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt. Der erste Roman aus dem reichen Schaffen des Autors.
Muzafari Subhdam erzählt seine Geschichte den anderen Flüchtlingen, die mit ihm in einem Boot auf dem Mittelmer herumirren und verloren sind. Es ist seine persönliche Geschichte und zugleich die Geschichte der Kurden im Irak. Muzafari Subdham nimmt an der kurdischen Revolte in den 80er Jahren teil, ist enger Freund des Revolutionsführer Jakobi Snauber. Ihm ermöglicht er zu entkommen und gerät selbst in die Gefangenschaft des Militärs. 21 Jahre erträgt er Einzelhaft in einem Gefängnis an einem unbekannten Ort in der Wüste. Hin und wieder erlaubt man ihm, einige Stunden in der Wüste zu verbringen. Die Erzählung setzt ein, als Muzafari nach 21 Jahren wieder Jakobi Snauber gegenübersteht, der ihn freikaufen konnte.
Muzafari soll nichts erfahren
Muzafari ist jedoch nicht frei, sondern soll bei Jakobi Snauber in einer Art gut bewachtem Schloss bleiben. Jakobi Snauber möchte nicht, dass er erfährt, was in all den Jahren geschehen ist, wie sich die kurdischen Parteien zerfleischt haben und mit welcher Brutalität der Bürgerkrieg geführt worden ist. Er möchte Muzafari schützen, vor allem aber sich selber vor dem kritischen Blick des Freundes. Muzafari aber will nach 21 Jahren in die Welt, er fühlt sich nach der Erfahrung im Gefängnis allem gewachsen, er hat keine Angst mehr. Muzafari will das Schloss verlassen und seinen Sohn finden, der wenige Tage, bevor er festgenommen und verschleppt wurde, geboren wurde.
Suche nach dem eigenen Sohn
Es gelingt ihm mit Hilfe eines Fremden, der eines Tages auftaucht, das Schloss und Jakobi Snauber zu verlassen. Nun beginnt er die Suche nach Saryasi, seinem Sohn. Er sucht nach einem Sohn und findet Stück für Stück heraus, dass es drei Saryasis mit gleichem Geburtsdatum gibt, die alle seine Söhne sein könnten. Diese Suche führt ihn durch die Schrecken der Gewaltherrschaft von Saddam Hussein und durch die Gewalt und Sinnlosigkeit des kurdischen Bürgerkriegs, durch die Armut und den verzweifelten Kampf der Straßenkinder um ihr Überleben und um ihre menschliche Würde. Den einen - seinen Sohn - findet er nicht mehr, er ist als Anführer der Lastenträger-Kinder getötet worden. Den zweiten Saryasi findet er in einem Gefängnis, und es gelingt ihm, besprochene Kassetten mit ihm auszutauschen. So erfährt er, wie der zweite Saryasi zum brutalen Peshmerga wurde. Den dritten Saryasi schließlich findet er, durch Verletzungen entstellt, im Keller eines Kinderheims in entsetzlichem Zustand.
Flucht über das Mittelmeer
Vater kann er nicht mehr sein, aber er will an der Seite des verletzten Saryasis bleiben, der in Europa behandelt werden soll. Freunde helfen ihm und die gläsernen Granatäpfel, von denen jeder Saryasi einen hatte, weisen ihm den Weg bei der Suche nach dem Schicksal der drei Saryasis. Die gläsernen Granatäpfel sind aber auch die Verbindung zur mystischen Ebene des Romans. Die Wüste hat Muzafari gelehrt, die tiefe Verbindung zwischen Ereignissen und Personen zu sehen. Er kämpft nicht mehr, er wertet nicht, er will wissen und verstehen. Noch einmal wird er in Jakobi Snaubers Auftrag entführt und zu ihm gebracht. Er erfährt, warum es drei Saryasis gibt und setzt sich mit den Rechtfertigungen Jacobis auseinander. Zugleich aber erkennt er, wie sehr Jakobi Snauber und er verbunden sind, dass er sich jedoch nicht wie Jakobi ganz zurückziehen will. Jakobi Snauber lässt ihn gehen. Nun verabschiedet sich Mustafari von allen Freunden und lässt die Geschichte des ersten und zweiten Saryasis hinter sich. Er entschließt sich, über das Mittelmeer zu fliehen, um dem dritten, verletzten Saryasi in England beizustehen.
Die zwei Gesichter des Kampfes
Bachtyar Ali gelingt es, die Grausamkeit der Diktatur, die Brutalität des Bürgerkriegs, die Gewöhnung an das Töten und die Alltagsgewalt nicht zu verschweigen und dennoch in vielen Figuren die Menschlichkeit, die Liebe, das Vertrauen, die Weisheit hervortreten zu lassen. Auch dem mit der kurdischen Geschichte nicht vertrauten Leser erschließen sich die zwei Gesichter des kurdischen Kampfes. Das Entscheidende und der Leitstern für Muzafari sind die Beziehungen zwischen den Menschen und der Verzicht auf Gewalt, so verständlich sie sein mag.
Dem Autor gelingen Spannung und Poesie gleichermaßen. Weitere Übersetzungen wären wünschenswert, nicht zuletzt auch deshalb, weil uns der Autor den menschlichen Reichtum, den Schrecken und die unausweichlichen Gründe für das Fliehen in genauen Personenbeschreibungen nahe bringen kann. Auf jeden Fall aber ist dieses Buch ein Juwel – Lektüre zu empfehlen!
Monika Huber
Ein Gesamtübersicht aller in dieser Rubrik besprochenen Bücher und Leseempfehlungen finden Sie auf unserer Seite »terre des hommes-Medientipps«.