Chigozie Obioma: Der dunkle Fluss
(aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner)
Aufbau-Verlag, Berlin 2015
313 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-351-03592-1
In seinem Erstlingswerk erzählt der erst 28jährige Autor die Geschichte einer Familie im Westen Nigerias, die unter dem patriarchalischen Auftreten des Vaters leidet. Als er versetzt wird, widersetzen sich vier der Söhne dem Verbot des Vaters, sich dem Gewässer zu nähern und beginnen Fische zu fangen. Eine Tragödie nimmt ihren Anfang, eine Familientragödie eingebettet in die Tragödie Nigerias. Auch Chigozie Obioma hat außerhalb Nigerias (Zypern und USA) studiert und blickt mit Einfühlungsvermögen, aber doch angefüllt mit anderen Erfahrungen auf sein Land.
Gefürchtete Strafe
Alles begann in der Erinnerung von Benjamin, dem vierten Sohn, mit der Versetzung des Vaters nach Yola, das im Osten Nigerias liegt, 1000 km von Akure im Südwesten entfernt. Die Arbeit bei der Zentralbank Nigerias erlaubte einen bescheidenen Wohlstand, gegen die Versetzung in die noch kleinere Stadt konnte sich der Vater nicht wehren. Seine Familie mitnehmen wollte er auch nicht, da die Sicherheitslage wegen immer wieder ausbrechender Gewalttätigkeiten gegen andere Ethnien und Religionen instabil war. So oft wie möglich fuhr er die 1000 km mit seinem Peugeot zur Familie nach Akure. Er sorgte gut für seine Frau und die insgesamt sechs Kinder, aber seine Söhne bekamen oft genug auch seine Autorität zu spüren: die gefürchtete Bestrafung mit der Lederpeitsche war an der Tagesordnung. Sie waren Igbos und sprachen zu Hause Igbo. Die Kinder hatten in Akure schnell das übliche Yoruba gelernt, und alle sprachen auch Englisch. Die Mutter arbeitete zusätzlich auf dem Lebensmittelmarkt. Für sie war die Versetzung ihres Mannes eine Katastrophe, denn sie ahnte schon, dass sie mit den vier Ältesten nicht alleine fertig werden würde.
Die unheimliche Magie des Flusses
Der Fluss Omo-Ala war ein dunkler Fluss. Sein Wasser, früher klar und frisch, war nun trübe. Es gab Gerüchte, dass Menschen am Fluss verschwinden, von einer angeschwemmten Leiche wurde berichtet, von Ritualen einer undurchsichtigen Gemeinschaft, insgesamt also ein bedrohlicher dunkler Fluss. Den Kindern war untersagt, dort zu spielen oder zu fischen. Genau damit fingen Ikenna, Boja, Obembe und Ben an, als die Autorität des Vaters immer weiter weg rückte.
Die Brüder betraten damit die magische Welt, vor deren unheilvollen Auswirkungen ihre Eltern sie immer hatten fernhalten wollen. Die Prophezeiung, besser der Fluch eines durch schreckliche Schicksalsschläge verrückt gewordenen Obdachlosen, setzt eine mörderische Entwicklung in Gang, der die Protagonisten, 15, 14, 11 und 9 Jahre alt, nichts entgegensetzen können.
Die Mutter kann insbesondere Ikenna, den Ältesten nicht abhalten, an die Verwünschungen zu glauben und alles zu tun, dass sie Wirklichkeit werden. Am Ende sind zwei der Söhne tot, einer nach Benin geflohen und der Ich-Erzähler als Zehnjähriger mit Gefängnis bestraft.
Traditionen werden nicht hinterfragt
Der Autor wirft einen kritischen Blick auf verhängnisvolle Traditionen des Landes, auf die Bereitschaft, magischen Überlieferungen zu vertrauen, ohne sie in Frage zu stellen. Auch die Söhne in dieser sehr bildungs- und aufstiegsorientierten Familie fühlen sich zur Rache verpflichtet, und trotz aller Zweifel und aller Angst gelingt es auch Benjamin nicht, dem zu entkommen. Zu einer langjährigen Gefängnisstrafe als Zehnjähriger in einem Erwachsenengefängnis im Jahr 1997 verurteilt zu werden, das wirft dann doch auch Fragen über das politische System in Nigeria auf, das im Roman nur nebenbei und gelegentlich erwähnt wird. Die Hinweise werden sicherlich von den Lesern in Nigeria auf Anhieb verstanden.
Das gilt auch für die Beschreibung der Nebenfiguren und –geschichten, die eingebettet sind in die Traditionen gesellschaftlichen Lebens oder von deren Zerfall durch Armut und Migration handeln. Die Erlebnisse des Vaters in der Zentralbank-Außenstelle in Yola verweisen auf die Gewaltkonflikte in Nigeria in den 90er Jahren. Sie halten ihn davon ab, mit der ganzen Familie dorthin umzuziehen und damit die Familie zusammenzuhalten.
Verstrickt in Gewalt
Vor allem aber erzählt der Autor eine spannende Geschichte. »Der dunkle Fluss« ist das Debüt des 28jährigen Autors. Vermutlich stecken in Ben, dem Ich-Erzähler, auch Erfahrungen und Züge des Autors. Es gelingt Obioma, den Leser neugierig zu machen, wie die vier Brüder, die sich eigentlich auf ein Leben im Westen vorbereiten, Stück für Stück in den Bannkreis magischer Wirklichkeit kommen und davon so eingenommen werden, dass sie sich einzeln und gemeinsam immer mehr in Gewalt verstricken.
Ben, der erwachsen aus dem Gefängnis zurückkehrt, liebt Tiere und beschreibt seine Mutter, seinen Vater, seine Brüder und sich selbst an Hand der Eigenschaften verschiedener Tiere. Dieser literarische »Trick« ist eine Verbeugung vor der mündlichen Geschichtenerzählung, die nicht immer den direkten Weg geht. Man spürt dennoch des Autors Distanz zu den gesellschaftlichen und religiösen Bindungen, die er beschreibt. Das gibt dem Roman die Frische und Dynamik.
Der Autor macht es dem Leser leicht, sich in die Personen hineinzuversetzen. Die Handlung ist sehr spannend, und ganz nebenbei erfährt man einiges über den Alltag in Akure. Das Buch ist ein Gewinn, leicht zu lesen und auch Jugendlichen zu empfehlen. Auf weitere Bücher des Autors darf man gespannt sein.
Rezension: Monika Huber
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