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Uwe Wittstock: Karl Marx beim Barbier

Leben und letzte Reise eines deutschen Revolutionärs
Verlag: Blessing, München, 2018
Preis: 20,00 Euro
288 Seiten
ISBN-13: 9783896676122
ISBN-10: 3896676121

Da steht er nun überlebensgroß in Trier, zu seinem 200. Geburtstag als Bronzestatue zurückgekehrt in seine Heimatstadt; im Rücken sein Elternhaus, den Blick nach Westen gerichtet, nach Köln und weiter nach Brüssel, Paris und London, wo er im Exil gelebt hat. Als die Regierung Chinas der Stadt die Ehrung von Karl Marx andiente, regte sich dort mehr Skepsis als Begeisterung. Politischer Streit kochte hoch; für alle Verfehlungen der vormals sozialistischen Länder wurde Marx in Haftung genommen. Schließlich aber setzte sich auch hier, sehr frei angelehnt an Marx, der Grundsatz »money talks« durch. Die Besucherströme aus China sollten durch eine Ablehnung des Geschenks nicht gefährdet werden. Doch wenn man genau hinschaut, sind es nur wenige Blumengebinde, die an seinem Denkmal niedergelegt werden.
Wie also umgehen mit Karl Marx? Uwe Wittstock interessiert sich in seinem Buch vor allem für dessen Leben. Dem nähert er sich in zwei Erzählsträngen. Er schildert zum einen die Reise des betagten Marx nach Algier, die dieser angetreten hat, um seine Lungenkrankheit zu kurieren. Deutlich gebeugt von den vielen Kämpfen seines Lebens tritt den Leserinnen und Lesern ein kränkelnder und zweifelnder Karl Marx entgegen, der nichts Monumentales an sich hat. Parallel dazu lässt Wittstock Marx die Stationen seines Lebens durchschreiten, bis sich am Ende beide Stränge miteinander verbinden. Das sind zwei gut gesetzte Spannungsbögen mit unterschiedlichen Zeithorizonten, die Raum für Reflexion und forciertes Erzählen lassen.

Harter Überlebenskampf im Exil

Stoff zum Erzählen gibt es mehr als genug beim Blick auf das Leben von Karl Marx. Es ist geprägt von starken Gegensätzen. Der Jugend in Trier in einem eher wohlhabenden Elternhaus, das seine bürgerlichen Privilegien den napoleonischen Reformen während der französischen Besatzung verdankt, steht die krasse Armut im Exil mit ihrer immerwährenden finanziellen Abhängigkeit von Friedrich Engels gegenüber. Die lockenden Aussichten auf eine Gelehrtenkarriere kontrastieren mit den politisch erzwungenen Fehlschlägen journalistischer Tätigkeit. Und auch die mutig über Standesgrenzen hinweg mit der adeligen Jugendfreundin Jenny von Westphalen geschlossene Ehe führt angesichts der ökonomischen Misere zu manchen familiären Krisen. Allzu oft war die Familie im wahrsten Sinne des Wortes unbehaust, wenn sie Hals über Kopf ihren Wohnsitz aufgeben musste, um politischer Verfolgung zu entgehen. Marx flüchtete sich schließlich in die Staatenlosigkeit, um einigermaßen sicher zu sein vor den Nachstellungen durch den preußischen Staat.

Marx als Wissenschaftler und Publizist
Wittstock versteht es, über diese biografischen Daten hinaus auch das Werk von Karl Marx verständlich zu machen. Er zeigt die philosophischen Strömungen der Zeit auf und schildert detailliert die Auseinandersetzung des jungen Karl Marx mit dem Hegelschen Gedankengut, die ihn zu einem radikalen Junghegelianer und Religionskritiker werden lässt. Auch die Vielfalt sich herausbildender sozialistischer Strömungen und Parteien beschreibt er anschaulich, in denen Marx entschieden Stellung bezieht. Dabei wird klar: Marx war Wissenschaftler, aber vor allem auch politischer Publizist. Die Mehrzahl seiner Schriften war aktuellen politischen Entwicklungen gewidmet, auf die Marx Einfluss zu nehmen trachtete. Erfolg war ihm dabei nicht unbedingt beschieden. Dazu war Marx wiederum eine zu unpolitische Persönlichkeit. Rechthaberei und Abgrenzung waren ihm offenbar eher gegeben als das Schmieden von Bündnissen und die Suche nach tragfähigen Kompromissen. Sein unermüdliches Streben nach Erkenntnis, sein bohrendes Hinterfragen der Verhältnisse und deren Verständnis im Systemzusammenhang können die jahrelange Arbeit an seinem Hauptwerk erklären und auch nachvollziehbar machen, dass die immer angekündigten Folgebände des Kapitals nie geschrieben wurden. Erst Friedrich Engels kompilierte sie aus dem Nachlass.

Marx auf Distanz zu sich selbst?

Wittstock legt noch eine andere Erklärung für das Unvollendete seines Werkes nahe – und da kommt dann die Sache mit dem Bart ins Spiel. Der altersmilde Karl Marx, so Wittstock, muss sich mehr und mehr eingestehen, dass sich die Verhältnisse anders entwickeln als von ihm vorher gesagt. Der Kapitalismus überstand Krise um Krise, ohne im Kern gefährdet zu sein. Die Arbeiterschaft hat deutlich stärker darauf gedrungen, ihren Anteil am steigenden Mehrwert zu erhalten statt auf revolutionäre Umwälzung zu setzen. Wittstock zeigt deshalb einen Marx, der gegen Ende seines Lebens Selbstdistanz übt und sein Werk selbstkritisch betrachtet. Der Bart als Markenzeichen des Revolutionärs steht ihm nicht mehr, folgerichtig führt ihn Wittstock zum Barbier und lässt Karl Marx von seinem Bart befreien. Diese historisch nicht verbürgte Szene ist dennoch von bestechender Bildkraft. Der vom Bart, will sagen, von den Zeitläuften befreite Karl Marx will anders betrachtet werden als ihn der zur Staatsdoktrin und nur allzu oft zu einer Tyrannei verkommene Marxismus-Leninismus dargestellt hat.

Die Suche nach gerechten Lebensverhältnissen
Das ist nicht frei von einer gewissen Kühnheit, aber durchaus auch verlockend. Was ist vom Werk von Karl Marx heute noch virulent und lohnt weitere Betrachtung? Mainstream-Ökonomen zumal bundesdeutscher Couleur dürften abwinken, auch wenn die Wirtschaftsweisen mit ihren eigenen Prognosen Jahr für Jahr nicht gerade durch Genauigkeit glänzen. Wittstock selbst bleibt mit seiner Antwort eher verhalten. Er hebt hervor, dass es nach Marx nicht mehr möglich sei, globale Entwicklungen ohne die Einbeziehung ökonomischer Analysen zu verstehen. So richtig das ist, so richtig ist es aber auch, dass Marx mit seiner Fixierung auf die Ökonomie eben nicht gelungen ist, Politik und Gesellschaft in ihren spezifischen Ausdifferenzierungen zu verstehen. Dass eine wirksame Umgestaltung der ökonomischen Verhältnisse allein zu einer besseren, Freiheit und Gleichheit garantierenden Gesellschaft führe, war schon der Irrtum der Frühsozialisten. Auch Marx ist ihm nicht entgangen. Aber sein Interesse an der Ökonomie speiste sich aus der umfassenderen Frage nach gerechten und würdigen Lebensverhältnissen; er wurde getrieben von der Suche danach, was geschehen müsse, um die von ihm diagnostizierte zerstörerische Kraft des Kapitalismus zu bändigen. Diese Frage bleibt aktuell. Studien von Autoren wie Thomas Piketty zeigen, dass auch marxistisch inspirierte Kategorien nach wie vor fruchtbar genutzt werden können, wenn es darum geht, Antworten zu finden.

Wer das gleichermaßen unterhaltsame wie anregende Buch liest, wird sich zu eigenem und weiterem Nachdenken ermutigt finden.

Jürgen Hambrink

Ein Gesamtübersicht aller in dieser Rubrik besprochenen Bücher und Leseempfehlungen finden Sie auf unserer Seite »terre des hommes-Medientipps«.


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