Zum Inhalt springen

Tim Marshall: Abschottung Die neue Macht der Mauern

Verlag: Dtv
336 Seiten
Preis: 24,--€
ISBN-13: 9783423289818
ISBN-10: 3423289813

Dass Mauern fallen können, wusste schon das Alte Testament. Als Josua die Posaunen vor Jericho blasen ließ, stürzten die Mauern ein. War es ein Wunder, wie es in der Bibel viele gibt? Sicher war es ein allen Erwartungen widersprechendes Ereignis. Das war auch der Fall der Berliner Mauer im November 1989, der buchstäblich über Nacht kam. Offenbar ist die Lebensdauer von Mauern begrenzt, was aber nicht davon abhält, ständig neue zu errichten. Sie haben, so lange sie dann existieren, nur allzu oft furchtbare Folgen.

Überall sind Mauern
Tim Marschall nennt in seinem Buch die erschreckende Zahl von 7200 Toten an den Grenzanlagen. Mehr als 65 Staaten schützen ihre Außengrenzen durch Zäune und Mauern, die meisten davon sind erst nach der Jahrtausendwende entstanden. Sie werden immer weiter technisch aufgerüstet, wie etwa der Grenzzaun zwischen Indien und Bangladesh, 4800 km lang, überwacht von Drohnen und Kontrollposten und gesichert durch Soldaten mit Schießbefehl. Auch in Afrika stehen Mauern. In der Westsahara sichert ein Grenzzaun den Herrschaftsanspruch Marokkos über das Gebiet der Sahauris; Südafrika schützt sich durch eine Grenzbefestigung gegen Armutsmigranten aus Simbabwe. Solche Bauwerke hat man kaum vor Augen, wenn von Mauern und Grenzsicherung die Rede ist. Deutlicher im Bewusstsein sind die Grenzsicherungen zwischen den USA und Mexico oder die Grenzanlagen zwischen Israel und Palästina, mit denen sich Marshall ebenfalls detailliert beschäftigt.

Was führt zum Bau von Mauern?
Als guter Journalist weiß sich Marshall vor allem dem Berichten verpflichtet und versucht, einseitige Parteinahmen zu vermeiden. Ausführlich beschreibt er die politischen Ausgangslagen, die zum Bau von Mauern geführt haben. Das ist, etwa im Hinblick auf die Grenze zwischen Indien und Bangladesh, sehr instruktiv, wenn er auf die willkürliche Teilung des indischen Subkontinents am Ende er englischen Kolonialherrschaft verweist. Auch bei der Analyse der israelischen Sperranlagen lässt er beide Seiten zu Wort kommen und kontrastiert das israelische Bedürfnis, sich gegen terroristische Angriffe zu schützen, mit dem Eindruck von übergriffiger Landnahme und Zerstörung der Perspektive eines eigenen unabhängigen Staates auf Seiten der Palästinenser.

Marschall geht es aber nicht nur um physische Mauern sondern auch um gesellschaftliche Abschottung und Ausgrenzung in verschiedenen Ländern. Sie gibt es auch zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, zwischen Parteien, Religionen, Einwanderern und Alteingesessenen. »Divided« lautet der dafür passende Titel des Originals. Am Beispiel Chinas verdeutlicht Marschall, wie die Tradition der Außengrenze mit ihrer legendären Mauer heute ihr Äquivalent im Inneren findet im Verhältnis der Volksgruppe der Han zu den Minderheiten in Tibet, Xinjiang und der Inneren Mongolei. Die Spaltung zeigt sich hier in der Verweigerung einer gleichberechtigten Teilhabe am chinesischen Entwicklungsmodell, sichergestellt vor allem durch eine enge Überwachung der Kommunikation. Die »Great firewall« als digitale Version der Chinesischen Mauer schließt die Nutzer des Internets von der Welt der Meinungsfreiheit aus.

Machen gute Zäune gute Nachbarn?
Sozial, ökonomisch oder religiös verursachte Abschottungen beschreibt Marshall auch im Nahen Osten und in Großbritannien. »Anderssein« als grundlegende Kategorie für den Ausschluss kann in der Tat die Vorstufe zur manifesten Abschottung durch Grenzanlagen oder Mauern sein, wie Marshall am Beispiel der durch Mauern geschützten Parzellierung im Irak zeigt. In Europa, dem ebenfalls ein Kapitel gewidmet ist, findet Marschall reichliche Belege für eine Rückkehr zu einer Politik der Abschottung. In der Tat rufen ja selbst die Verteidiger offener Grenzen im Schengen-Raum immer öfter nach einem Schutz der Außengrenze. Ein Zaun erscheint auch vielen deutschen Politikern von der Rechten bis weit in die vielzitierte Mitte hinein als nicht nur denkbares, sondern notwendiges Mittel, um Migration nach Europa zu unterbinden. Hier zeigt sich Marschall von einer gewissen Nonchalance. »Gute Zäune machen gute Nachbarn« zitiert er ein englisches Sprichwort. Das mag man einem englischen Autor nachsehen, deutsche Leser werden aber nicht umhin können, an das seinerzeitigen Diktum von Alexander Gauland zu denken, der über die unerwünschte Nachbarschaft von Jerome Boateng räsonierte und damit Verständnis für Fremdenfeindlichkeit signalisierte. Marschall entgeht hier nicht der Gefahr der Verharmlosung, die sich auch in seinem unbefangenen Eingehen auf Victor Orbans krude Vorstellung von einer illiberalen Demokratie zeigt.

Gibt es eine Strategie gegen Mauern?
So interessant sein Ansatz ist, Mauern nicht nur als physische Sperrwerke zu sehen, sondern auch als Verwerfungen und Ausgrenzungen in Gesellschaft und Politik, so wenig hilfreich ist diese Zusammenschau, wenn es um Konsequenzen geht. Da bleibt die Metapher der Mauer für vielfältige Problemlagen letztlich zu allgemein. Es kann um Nachbarschaft gehen, aber es geht allzu oft eben auch um Leben und Tod und hier dürfte die dringendste Herausforderung liegen. Dass physische Mauern allenfalls eine vorübergehende Lösung für die Gegenwart sein können, nicht aber für die Zukunft, spricht Marshall selbst an verschiedenen Stellen seines Buches klar an, etwa im Hinblick auf die Grenze zwischen Indien und Bangladesh oder bei dem Furcht erregenden Sperrwerk zwischen Israel und Palästina. Nimmt man diese Erkenntnis ernst – und das sollte man tun - drängt sich die Frage nach Strategien zum Überwinden von Mauern geradezu auf. Marschall bleibt hier leider sehr vage. Im Schlusskapitel verweist er zwar kursorisch auf bestehende multilaterale Institutionen und Vertragswerke, aber die summarische Bemerkung, dass es gegen die derzeitige Dominanz von Nationalismus und Identitätspolitik immer auch das Potenzial zu deren Überwindung gebe, ist doch wenig befriedigend. Leserinnen und Leser, die hierzu konkrete Antworten erwarten, bleiben enttäuscht. Wer allerdings detaillierte Informationen zum gegenwärtigen Zustand unserer mannigfach geteilten Welt sucht, sollte sich die Lektüre des flüssig geschriebenen Buchs gönnen.

Jürgen Hambrink

Ein Gesamtübersicht aller in dieser Rubrik besprochenen Bücher und Leseempfehlungen finden Sie auf unserer Seite »terre des hommes-Medientipps«.

Zurück zum Seitenanfang

Bleiben Sie doch noch einen Moment –
und abonnieren Sie unseren Newsletter!

Jetzt anmelden!

Bleiben Sie informiert.
Abonnieren Sie unseren Newsletter!

Jetzt anmelden!