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Ein Gedicht zu Afghanistan

Die junge Afghanin Khorshid*, die mittlerweile in Deutschland lebt, hat anlässlich des Jahrestags ein Gedicht geschrieben. Terre des Hommes darf es veröffentlichen:

*Name zum Schutz der Person geändert

 

15. August 2021 - Der Tag, an dem ich meine Heimat endgültig verlor

Ein Aufschrei gegen das Vergessen. Gegen das Schweigen. Gegen die
Gleichgültigkeit.


Ich werde den 15. August 2021 nie vergessen.
Nie.

An diesem Tag nahmen die Taliban Kabul ein.
An diesem Tag fiel nicht nur eine Stadt – es fiel ein Land.
Es fiel meine Heimat.

Ich verlor sie nicht zum ersten Mal – das geschah, als ich fliehen musste.
Aber an diesem Tag verlor ich sie endgültig. Nicht durch meine Flucht. Sondern
weil es kein Afghanistan mehr gibt, das ich jemals zurückerobern könnte.

Was blieb, ist ein Ort ohne Hoffnung. Ohne Freiheit. Ohne Zukunft.

Seit diesem Tag geschieht ein Verbrechen –
Tag für Tag. Stunde für Stunde. Leben für Leben.

Ich sehe, wie Frauen systematisch entrechtet werden.
Ich lese, wie Mädchen von Schulen verbannt werden –
wie ihre Zukunft gelöscht, ihre Stimmen erstickt, ihre Träume begraben werden.
Ich höre, wie sie sagen:

„Afghanistan ist ein Gefängnis ohne Wände – mit Himmel über uns und
Boden unter uns. Aber ohne Luft zum Atmen.“

Sie haben recht.

Afghanische Frauen leben wie Gefangene im eigenen Land.
Ohne Rechte. Ohne Schutz. Ohne Hoffnung.

Und die Welt?
Sie schaut zu.
Sie schweigt.
Sie rechnet.
Sie vergisst.

Deutschland versprach Hilfe.
Es versprach, jeden Monat 1.000 gefährdete Afghan*innen zu evakuieren.
Drei Jahre später sind es kaum 6.000.

Was ist mit all den Menschen, die für westliche Organisationen arbeiteten?
Mit den Aktivistinnen, Journalistinnen, Lehrerinnen?
Mit den Frauen, die Hoffnung verkörperten – und dafür heute gejagt, eingesperrt, gefoltert werden?
Sie wurden verraten. Und sie wurden zurückgelassen.

Und währenddessen schieben Iran und Pakistan jeden Tag Afghan*innen in die Hölle zurück.
An die Grenzen. In die Gewalt. In den Tod.
Und Europa?
Es sieht weg. Auch Deutschland. Auch heute.

Ich bin in Sicherheit.
Aber mein Herz ist es nicht.

Ich darf studieren.
Ich darf leben.
Doch jeden Tag frage ich mich:
Warum ich?
Und warum sie nicht?

Ich spreche mit Mädchen in Afghanistan.
Ich höre ihre Tränen.
Ich lese ihre Nachrichten, in denen sie flüstern, dass sie nicht mehr können.
Dass sie aufgeben wollen.

Und ich?
Ich weine mit.
Ich schreie – innerlich.
Ich fühle mich machtlos.

Ich lebe – während sie sterben.
Ich kämpfe – während sie keine Kraft mehr haben.
Ich träume – während man ihre Träume mit Stiefeln zertritt.

Was passiert ist, ist Verrat.
Was weiter passiert, ist ein stiller Mord – an Würde, an Hoffnung, an Leben.

Die Welt hat Afghanistan fallen lassen.
Die Taliban herrschen mit Angst, mit Gewalt, mit Ideologie – und der Westen schaut zu.
Die internationale Gemeinschaft, die einst Freiheit versprach, lässt nun zu, dass eine ganze Generation im Dunkeln verschwindet.

Doch wir werden nicht schweigen.
Wir dürfen nicht.

Denn Heimat kann man verlieren.
Aber nicht vergessen.

Ich habe meine Heimat verloren.
Aber ich habe meine Stimme behalten.
Und ich werde sie nutzen.

Für all jene, die nicht mehr sprechen dürfen.
Für all jene, die man zum Schweigen gezwungen hat.
Lasst uns erinnern.
Lasst uns sprechen.
Lasst uns handeln.

Für die Mädchen, die nicht lernen dürfen.
Für die Frauen, die nicht leben dürfen.
Für Afghanistan.