Zum Inhalt springen

Sie sind hier:

»Die Hilfsbereitschaft für Geflüchtete ist enorm«

terre des hommes-Referent Marti Gensel über seine Eindrücke aus dem krisengebeutelten Burkina Faso

Weitgehend unbeachtet von der internationalen Öffentlichkeit haben Gewalt, Flucht und Vertreibung in Burkina Faso ein erschreckendes Ausmaß angenommen: Seit mehr als sechs Jahren ist das Land im Fadenkreuz des dschihadistischen Terrors, der auch in Mali und Niger wütet. Marti Gensel, Referent für Kofinanzierung in Afrika bei terre des hommes, war vor Ort und berichtet über den Konflikt, die Situation der geflüchteten Kinder und die Arbeit von terre des hommes.

Wer kämpft in Burkina Faso gegen wen und warum?

Die Situation ist sehr komplex, es gibt zahlreiche Akteure: Dem Terrornetzwerk Al-Qaida und dem Islamischen Staat nahestehende Gruppen, die bis 2019 noch teilweise zusammengearbeitet haben, kämpfen jetzt gegeneinander. Lokale Milizen, bewaffnete Freiwilligengruppen, Polizei, Militär und Sicherheitskräfte unterstützen die Regierung, die allein im vergangenen Jahr durch Militärputsche zweimal wechselte. Die Ziele in den einzelnen regionalen Konflikten sind nicht immer klar greifbar, meist geht es neben religiösen Ideologien auch um die Eroberung von Territorien, die Kontrolle wirtschaftlicher Aktivitäten und die gezielte Herbeiführung politischer Instabilität. Nährboden für all dies sind aber viel weiter zurückreichende, tiefgreifende Probleme wie Armut, Mangel an sozialen Dienstleistungen und die Vernachlässigung der ländlichen Bevölkerung durch den Staat, was zu großer Unzufriedenheit bei der Bevölkerung geführt hat.

Warum schließen sich so viele Jugendliche diesen Gruppen an?

Sicherlich machen die wenigsten dies aus ideologischer Überzeugung. Neben der Einschüchterung und dem direkten Zwang fehlt für viele von diesen meist marginalisierten männlichen Jugendlichen eine Alternative: Es gibt keine Bildungsangebote und keine Einkommensquellen. Da kann die Beteiligung an einer bewaffneten Gruppe als Perspektive wahrgenommen werden.

Ist das ganze Land von der Gewalt betroffen?

Indirekt schon, auch wenn es um die Hauptstadt Ouagadougou herum und im Süden des Landes im Vergleich sicherer ist. In vielen anderen Regionen finden regelmäßig Anschläge statt, werden Dörfer geplündert oder es kommt zu Kampfhandlungen. Der Norden und der Osten sind aktuell für uns nicht mehr zugängliche Gebiete, und es ist keine Stabilisierung der Lage in Sicht.

Aber dort leben noch immer Menschen…

Ja, aber es gibt quasi keine Regierungsstrukturen mehr und somit auch keine Sicherheit. Die bewaffneten Gruppen führen ihre eigene Gerichtsbarkeit ein. Wenn du ihren Regeln feindselig gegenüberstehst, wirst du als Verbündeter konkurrierender Gruppen oder des Staates gesehen. Das kann schlimme Folgen haben. Die Menschen stehen vor der Wahl: Unterwerfe ich mich diesen aufgezwungenen Regeln oder flüchte ich. Andererseits kann die Kontrolle durch eine bewaffnete Gruppe für ein Dorf erstmal auch bedeuten, dass es keine Kämpfe mehr gibt und etwas Ruhe einkehrt.

In Burkina Faso leben 22 Millionen Menschen, sind viele davon auf der Flucht?

Knapp zwei Millionen sind offiziell aus ihrer Heimatregion geflohen, die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder. Die tatsächliche Zahl liegt vermutlich noch höher: In der Hauptstadt sind keine Binnenflüchtlinge registriert, die Realität sieht jedoch ganz anders aus.

Wovon leben sie?

In Burkina Faso leben nicht nur die Geflüchteten, sondern drei bis vier Millionen Menschen in akuter Ernährungsunsicherheit. Viele helfen in der Land- oder Viehwirtschaft, betreiben informellen Handel oder sind mit Gelegenheitsarbeiten beschäftigt. Viele sind dennoch von humanitärer Hilfe abhängig, manche werden von Verwandten oder Bekannten unterstützt. Einige Gemeinden haben das Doppelte bis Dreifache ihrer ursprünglichen Einwohnerzahl an Flüchtlingen aufgenommen. Das hat enorme Auswirkungen auf die Infrastruktur wie zum Beispiel die Gesundheitszentren und deren Personal. An vielen Orten mangelt es an ausreichend Trinkwasserquellen und Sanitäreinrichtungen.

Wie geht es den Kindern und Jugendlichen? Gibt es genug Schulen?

In den Klassen der aufnehmenden Schulen sind teilweise weit über 100 Schülerinnen und Schüler. Die Ausrüstung ist oftmals provisorisch, Unterricht findet teilweise draußen statt. Hinzu kommen Sprachprobleme: Die geflohenen Kinder verstehen oft weder die offizielle Landessprache Französisch noch die lokale Sprache ihrer Aufnahmegemeinde, denn in Burkina Faso gibt es viele unterschiedliche lokale Sprachen.

Was bringt ein solcher Schulunterricht den Kindern?

Wenngleich die Bildungsqualität aufgrund der beschriebenen Umstände nicht die beste sein mag, so finden die Kinder in der Schule einen geschützten Raum vor. Sie können sich mit Gleichaltrigen austauschen, bekommen ein Zugehörigkeitsgefühl und ein Stück Normalität.

Wie hilft terre des hommes?

Zum Beispiel mit Eingliederungsunterricht für geflüchtete Kinder oder Kinder der aufnehmenden Gemeinden, die bisher keine Schule besucht haben. Momentan besuchen mehr als 2.000 Kinder die Kurse. Sie dauern neun Monate und finden außerhalb der regulären Schulzeit statt. Unter anderem lernen die Kinder dort auch Französisch. Unsere Partnerorganisationen verbessern zudem die Ausstattung der Schulen, besorgen Tafeln, Stühle, Tische und Lernmaterialien. Gleichzeitig arbeiten wir mit den Lehrkräften: Sie sollen lernen, mit den geflüchteten Kindern umzugehen, damit sie besser integriert werden und keine Konflikte zwischen Geflüchteten und Einheimischen entstehen.

terre des hommes kümmert sich also um die Bildung der Kinder …

Um ihre Bildung und um ihren Schutz: Die schwierige Situation der Familien ist viel zu häufig ein Nährboden für Gewalt und die Verletzung von Kinderrechten. Unsere Partnerorganisationen bauen in rund 30 Gemeinden Schutzkomitees auf, die aktiv werden, wenn jemand Kinderrechtsverletzungen beobachtet.

Um welche Kinderrechtsverletzungen geht es?

Zum Beispiel Genitalverstümmelung von Mädchen, ausbeuterische Kinderarbeit, Vernachlässigung, körperliche oder psychische Gewalt gegen junge Frauen oder Mädchen oder auch die Rekrutierung durch bewaffnete Gruppen. Die Schutzkomitees können in vielen dieser Fälle als erste Anlaufstelle agieren. Dort wird der Fall eingebracht und dann an die zuständigen Behörden weitergeleitet. Sie sorgen aber auch durch Aufklärung und frühes Eingreifen dafür, solchen Rechtsverletzungen vorzubeugen. Unterstützt werden sie von Kinder- und Jugendclubs, in denen über Kinderrechte und ihre Verletzung aufgeklärt wird.

Was hat dich auf deiner Reise am meisten beeindruckt?

Vieles, aber vor allem das hohe Maß an Hilfsbereitschaft der Menschen aus den Aufnahmegemeinden. Sie sind selbst mit herausfordernden Lebensumständen konfrontiert, aber die Hilfsbereitshaft für Geflüchtete ist enorm. Es gibt kaum Auseinandersetzungen, die Situation wird irgendwie gemeinsam bewältigt. Beeindruckt hat mich auch die übergroße Dankbarkeit für unsere Arbeit und die Arbeit unserer Partnerorganisationen. Der Bedarf in fast allen Bereichen ist immens.