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»Die Maras akzeptieren kein Nein«

Der Menschenrechtsanwalt Pedro Cruz über die alltägliche Gewalt in El Salvador, die über 3.000 sogenannten »Verschwundenen« und das Leid ihrer Angehörigen

In der weltweiten Mordstatistik hat El Salvador einen Spitzenplatz: 2016 kamen auf 100.000 Einwohner 81 Morde. Verantwortlich dafür und für die über 3000 sogenannten »Verschwundenen« sind vor allem kriminelle Banden, die Maras. Iris Stolz sprach mit Pedro Cruz, Jurist und Koordinator der Menschenrechtsorganisation ASDEHU, die von terre des hommes dabei unterstützt wird, den Angehörigen der Verschwundenen zur Seite zu stehen.

Herr Cruz, wie sind die Maras in El Salvador entstanden?

In den 70er Jahren sind viele Menschen aus El Salvador in die USA emigriert, vor allem nach Los Angeles. Dort gab es Gangs von Einwanderergruppen. Als später viele Migranten ausgewiesen wurden, haben sie diesen Lebensstil mitgebracht. Sie trafen aber auf ein ganz anderes Umfeld: In El Salvador gab es eine hohe Arbeitslosigkeit und kaum Zugang zu Bildung. Es gab nach dem Bürgerkrieg viele Waffen und eine Polizei, die neu aufgebaut wurde und wenig Erfahrung hatte. Viele Kinder wurden von ihren Großeltern betreut, weil die Eltern im Krieg gestorben oder in die USA gegangen waren. Unter diesen Bedingungen sind die Jugendbanden zu großen kriminellen Organisationen geworden. Heute gibt es in El Salvador, das 6,4 Millionen Einwohner hat, schätzungsweise 50.000 Mareros, also Mitglieder von Maras.

Warum machen so viele Jugendliche mit?

Wenn du in einem Viertel wohnst, in dem eine Mara das Sagen hat, ist das fast vorbestimmt. Manche Jugendliche werden gezwungen. Andere wollen mitmachen. Sie fühlen dort eine Zugehörigkeit. Die Maras sind sehr solidarisch und schützen sich gegenseitig. Ein anderer Grund ist das Gefühl von Macht: Du hast eine Pistole, hast Einfluss, kannst Befehle erteilen und Autoritäten wie Eltern, Lehrer oder Behörden herausfordern.

Werden auch Kinder eingebunden?

Kinder müssen zum Beispiel Schutzgeld kassieren oder Botschaften überbringen. Acht- oder Neunjährige geben dann dem Ladenbesitzer einen Zettel, auf dem steht: Morgen müssen Sie uns 200 Dollar aushändigen. Kinder spielen auch an den Durchgangsstraßen des Viertels und passen auf, wer kommt und wer geht. Dann sagen sie Bescheid: Es kommt ein Polizeiwagen. Oder: Es kommt ein Auto, das nicht von hier ist.

Wie finanzieren sich die Maras?

Sie kassieren Schutzgeld, für sie ist es eine Art Steuer. Es wird vermutet, dass sie jedes Jahr viele Millionen einnehmen. Davon leben ihre Familien, und es werden Anwälte bezahlt für diejenigen, die im Gefängnis sind. Sie investieren auch: Ihnen gehören Busse, Taxis oder Autowaschanlagen. Erst kürzlich wurden Hotels und Luxusautos beschlagnahmt.

Wie viele Mareros konnten bisher verhaftet und verurteilt werden?

Es gibt über 15.000 Mareros in den Gefängnissen. Darunter sind auch wichtige Anführer. In der Vergangenheit haben sie aus dem Gefängnis heraus Befehle gegeben. Es war sehr einfach für sie, Telefone zu bekommen oder anders mit ihren Leuten zu kommunizieren. Deshalb hat die Regierung jetzt Telefon und Internet blockiert. In einigen Gefängnissen wurden sogar Besuche von Angehörigen verboten.

»Die Suche bestimmt das ganze Leben«

Viele Opfer der Maras verschwinden, sie tauchen nie oder Jahre später in geheimen Massengräbern wieder auf…

Manchmal töten sie auf offener Straße und manchmal werden die Opfer entführt, ein paar Tage lang gefoltert und anschließend getötet. Ihre Körper werden dann oft auf geheimen Friedhöfen begraben. In den letzten sieben Jahren gab es über 7.000 Vermisstenanzeigen, etwa die Hälfte der Vermissten ist wieder aufgetaucht. Die andere Hälfte wurde entweder tot oder gar nicht gefunden.

Wer ist hauptsächlich betroffen?

Meist sind es jüngere Leute zwischen 15 und 35 Jahren. 80 Prozent sind männlich, und fast immer kommen sie aus armen Vierteln. Manche wohnen in einem Stadtteil, der von einer rivalisierenden Mara beherrscht wird, und werden deshalb als Feind gesehen. Manche verschwinden, weil sie sich weigern, mitzumachen. Manche werden getötet, weil sie das Schutzgeld nicht bezahlen wollen. Wenn es eine Frau oder ein Mädchen trifft, dann häufig, weil sie sich weigert, die Geliebte eines Marero zu werden. Wir betreuen ein solches Mädchen. Sie musste in eine andere Stadt umziehen und wir haben ihr geholfen, eine Familie zu finden, bei der sie leben kann. Die Maras akzeptieren kein Nein. Wenn sie auf ein Mädchen stehen, dann muss dieses Mädchen darauf eingehen. Wenn sie nicht will, dann ärgern sie sich und bedrohen sie.

Wie geht es den Angehörigen der Verschwundenen?

Wenn sie zu ASDEHU kommen, stehen sie unter Schock. Sie sind voller Angst und Verzweiflung und widmen all ihre Energien der Suche nach dem verschwundenen Familienmitglied. Sie können an nichts Anderes denken, die Suche bestimmt das ganze Leben. Sie verlieren ihre Arbeit, weil sie ihre Zeit damit verbringen, ihren Angehörigen suchen, statt zu arbeiten. Auch die Kinder gehen durch schwere Traumata: Nächtliche Panik und Alpträume sind häufig. Sie wollen nicht mehr zur Schule gehen und wenn sie doch gehen, können sie sich im Unterricht nicht mehr konzentrieren. Ihre Gesundheit wird schlechter und sie wollen nicht mehr essen. Das ganze Leben der Familie wird von dem Verschwinden des Angehörigen beherrscht.

Wie kann ASDEHU helfen?

Die Familien müssen zunächst den Schock verarbeiten und irgendwie stabilisiert werden. Später verdeutlichen wir ihnen: Sie sollen die Suche nicht aufgeben, aber sie sollen sie in ein einigermaßen normales Leben integrieren. Sie sollen arbeiten und auf ihre Kinder achtgeben. Das ist schwer. Denn sie fühlen, dass jedes normale Verhalten - Lachen, Lieben, Sich-über-irgendwas-unterhalten – ein Verrat am verschwunden Familienmitglied ist.

»Sie halten es für respektlos, zu trauern«

Leiden Menschen unter dem Verschwinden einer geliebten Person mehr als unter ihrem Tod?

Wenn man keinen toten Körper hat, lebt man ständig zwischen Angst und Hoffnung. Die Familie muss zwar davon ausgehen, dass der Angehörige tot ist. Aber sie kann die Hoffnung nicht aufgeben, ihn lebend zu finden. Oder wenigsten den toten Körper. Um ihn zu begraben. Es wird zu einer Obsession. Jeden Tag denken sie daran und suchen Informationen – jemanden, der etwas gesehen haben könnte. Sie können nicht wirklich trauern, weil es keinen Körper gibt. Sie halten es für respektlos, zu trauern, wenn es kein Begräbnis gab.

In welchen anderen Bereichen arbeitet ASDEHU?

Der zweite Bereich ist die Dokumentation der Fälle: Wir legen Profile über die Opfer und die Umstände des Verschwindens an, damit wir die Denkweise der Maras besser verstehen und dagegen vorgehen können. Drittens unterstützen wir die Angehörigen auf juristischer Ebene: Wir helfen, Anzeige zu erstatten, fragen nach Interviews mit Zeugen und üben Druck auf Behörden und Polizei aus, damit Ermittlungen aufgenommen und die Fälle verfolgt werden.

Wieviel Fälle betreut ASDEHU?

Etwa 50. Die Liste der Menschen, die auf unsere Hilfe warten, ist lang. Aber wir können nicht mehr schaffen. Wir haben nur vier Mitarbeiter: eine Psychologin, eine Sozialarbeiterin, einen Juristen und mich als Koordinator.

Wie versucht die Regierung die Gewalt einzudämmen?

Die Regierung hat einen Plan gemacht, er heißt »El Salvador Seguro« (Sicheres El Salvador). Er hat verschiedene Komponenten, wie die polizeiliche Bekämpfung der Gewalt, die Rehabilitation der Täter und Gewaltprävention. Der Teil der polizeilichen Bekämpfung kommt gut voran, die anderen Teile eher nicht. In einigen besonders durch Gewalt geprägten Stadtteilen gibt es Pilotprojekte. Dort konnte die Mordrate gesenkt werden. Das Problem ist sehr groß und El Salvador ist ein armes Land. Es gibt nicht genug Geld, um die Dinge effektiv anzugehen. Wir müssen einen langen Atem haben.

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