Das Entwicklungsgeheimnis von Quispillacta
Das Hilfsprojekt ABA in Peru: Eine Erfolgsgeschichte
Angefangen hat alles 1991 in Quispillacta, einer Quechua-Gemeinde aus 13 Weilern in 2.500 bis 4.500 Metern Höhe in der Region Ayacucho in Peru. Mitten im Bürgerkrieg zwischen der maoistisch geprägten Guerilla und der Armee kehren die beiden Agrar-Ingenieurinnen Marcela und Magdalena Machaca in ihre Heimatgemeinde Quispillacta zurück.
Die Machacas wollen ihr Wissen den von Gewalt und Terror gebeutelten 3.000 Einwohnern ihres Dorfes zur Verfügung stellen. Sie gründen die »Asociación Bartolomé Aripaylla« (ABA), die sich einer nachhaltigen Gemeindeentwicklung verschrieben hat. Seit 1992 unterstützt terre des hommes ABA in diesem Prozess der Rückbesinnung auf lokales Wissen und Potenziale.
Nach mehr als 20 Jahren Förderung stellt sich die eine große Frage: Was hat es gebracht? Welche Wirkungen lassen sich nach dieser kontinuierlichen Förderung mit insgesamt etwa 850.000 Euro feststellen? Geht es den heute mittlerweile knapp 5.000 Einwohnerinnen und Einwohnern besser? Haben Kinder und Jugendliche heute bessere Lebens- und Entwicklungschancen als vor 20 Jahren?
Wasser ziehen mit Pflanzen
Im Ortsteil Tuco auf 4.480 Metern Höhe erzählt Bauer Don Marcelo, was er mit Unterstützung von ABA in den letzten 18 Jahren unternommen hat. Die 78-jährige Mutter von Don Marcelo wässert in einer Ecke trockenes, hartes Ichu-Gras für ihre rund 45 Meerschweinchen. Das Wasser kommt aus einem Wasserhahn – ungewöhnlich für diese karge Gegend, in der Wassermangel ein stetes Problem ist. Und an genau dieser Tatsache kann die inspirierende Geschichte über das Entwicklungsgeheimnis von Quispillacta erklärt werden. Ausgangspunkt sind 64 angelegte Lagunen, in denen das Regenwasser gesammelt wird. Mit Hilfe eines kleinen, künstlichen Damms werden circa zwei Meter tiefe Seen angestaut. Sie sind etwa so groß wie ein Fußballplatz. Bis auf die Tatsache, dass die Lagunen dem Vieh gelegentlich als Tränke dienen, wird ihnen kein Waser entnommen. Zweck ist vielmehr, dass sich das gesammelte Regenwasser langsam in die tieferliegenden Gebiete des Berges verteilt. Mit Hilfe der Putaqa-Pflanze wird das Wasser dort, wo es benötigt wird, gewissermaßen an die Oberfläche »gezogen«. Die Putaqa hat meterlange Wurzeln, die das Wasser aus der wasserführenden Schicht holt und eine Quelle bildet.
Nur wenige Meter oberhalb des Hauses von Don Marcelos stehen seine Putaqa-Pflanzen. Darunter befinden sich zwei Teiche, von denen er Wasser auf den Hof und die Felder leitet. Etwa 180 Familien haben jetzt solch eine »Putaqa-Quelle«, die sie ganzjährig mit Trinkwasser versorgt.
Traditionelles Know-how sichern
Das Wissen über die Nützlichkeit dieser Pflanze war bei einzelnen Bauernfamilien noch vorhanden, wurde aber von der internationalen Entwicklungshilfe, die in der Regel auf technisierte Landwirtschaft setzt, nicht genutzt. ABA hat auf über 3.000 »Wissenskarten« dieses und anderes Know-how gesammelt und an interessierte Bäuerinnen und Bauern verteilt. Die Karten enthalten Ratschläge von der Wettervorhersage über die biologische Behandlung von Pflanzen- und Tierkrankheiten bis zu Anbautechniken bei schlechten Böden und extremer Hanglage. Da Wetter- und Anbaubedingungen von Dorf zu Dorf unterschiedlich sind, wundert die große Vielfalt an Techniken und Sorten nicht. Allein in der Gemeinde Quispillacta werden heute mehr als 120 Kartoffelsorten angebaut. Nicht nur frühe und späte, feste und weichkochende, sondern weiße, gelbe, rote, blaue, violette und bunte: Jede hat ihre Besonderheit und wird oft für besondere Anlässe verwendet.
Die ganzjährige Verfügbarkeit von Wasser hat die Produktivität der kleinbäuerlichen Landwirtschaft enorm erhöht. Da ohne großen Aufwand und Kosten ganzjährig kleinere Terrassen- und Wiesenflächen bewässert werden können, ist selbst in dieser Höhenlage der Anbau von Futterpflanzen und marktgängigen Produkten wie Knoblauch und Bohnen möglich. Für zwölf Kilogramm Knoblauch gibt es – je nach Saison – umgerechnet zwischen sechs und 23 Euro, ein ausgewachsenes Meerschweinchen erbringt der Bäuerin auf dem Markt knapp drei Euro. Durch diese Zusatzverdienste hat sich das jährliche Einkommen einer kleinbäuerlichen Familie in Quispillacta in den vergangenen 15 Jahren verdreifacht. Die Familie von Don Marcelo kommt heute auf etwa denselben Jahresverdienst wie eine Lehrkraft der Sekundarschule. »Es stimmt, es geht uns heute deutlich besser als in meiner Jugend.
Unsere Abgeschiedenheit und der Bürgerkrieg, aber auch falsche, von anderen übernommene Entwicklungskonzepte haben uns in Armut und Abhängigkeit gehalten. Heute leben wir ein gutes Leben«, sagt er zufrieden. Magdalena Machaca ergänzt: »Die Bevölkerungszahl der gesamten Gemeinde ist in den letzten 20 Jahren von 3.000 auf 4.850 Personen gestiegen. Heute wandert niemand mehr aus Not in die Großstädte Ayacucho oder Lima ab, um sich dort als Lastenträger für einen Hungerlohn zu verdingen«. Im Gegenteil: Junge Menschen gehen in die Stadt, um sich weiter zu qualifizieren. Nach dem Studium kommen sie zurück in die Region und arbeiten als Regierungsangestellte, landwirtschaftliche Berater oder Bauer. Ihre neuen Ideen bringen sie ein und gründen beispielsweise Produzentengruppen und Kooperativen.
Mädchen gehen zur Schule, statt das Vieh zu hüten
Gleichzeitig hat die Veränderung in der Landwirtschaft dazu geführt, dass auch die Mädchen heute fast alle zur Schule gehen statt den ganzen Tag Vieh zu hüten. In der Gemeinde Quispillacta liegt die Einschulungsrate bei 92,5 Prozent, es gibt kaum Abbrecherinnen. Vor 20 Jahren ging ein Drittel der Mädchen nicht zur Schule und fast die Hälfte brach vor Abschluss der Grundschule ab. Dafür gab es zwei Gründe: Zum einen brauchte die Familie die Arbeitskraft der Kinder in der Landwirtschaft, zum anderen war der Schulunterricht so fern der Lebenswirklichkeit, dass viele Kinder – besonders Mädchen – die Schule frühzeitig verließen.
Auch hier hat sich in den vergangenen 20 Jahren viel getan: 1995 hatte die Gesamtgemeinde Quispillacta insgesamt fünf Grundschulen. Heute gibt es zehn Grundschulen, fünf Sekundarschulen und fünf Kindergärten. Diesen Erfolg erklärt ABA damit, dass sich die Regionalregierung immer wieder hartnäckig für mehr Schulen eingesetzt hat. Mit Erfolg: Heute hat keine andere Gemeinde in der weiteren Umgebung eine vergleichbare Infrastruktur für Bildung.
Auch die Inhalte des Unterrichts konnte ABA mit Hilfe von terre des hommes verbessern und näher an die Bedürfnisse und den Lebensalltag der Menschen heranholen. Denn die Schulbücher der Vergangenheit waren ausschließlich an westlich-städtischen Standards und Entwicklungsvorstellungen ausgerichtet und auf Spanisch verfasst. Für die Erstklässlerinnen und Erstklässler war der Schuleintritt der Schock ihres Lebens: Vom ersten Tag an sprachen die Lehrkräfte in einer fremden Sprache zu ihnen. Eine Lehrerin erklärt das so: »Man muss sich das so vorstellen, als ob deutsche Kinder vom ersten Schultag an nur noch auf Chinesisch angesprochen würden. Ist doch logisch, dass sie nichts verstehen und schnell die Lust am Lernen verlieren«. Heute werden die ersten Schuljahre in Quechua unterrichtet, die Spanischanteile kommen nach und nach hinzu. Die Unterrichtsinhalte beginnen in und mit der Lebenswelt der Kinder, ihren Erfahrungen und ihrem Können. Dieses traditionelles Wissen bildet die Grundlage, auf der modernes Wissen aufbaut. Dieser Grundgedanke wird inzwischen auch vom regionalen Erziehungsministerium anerkannt und gefördert.