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»Da muss man was unternehmen!«

Lutz Beisel (79) hat im Januar 1967 gemeinsam mit etwa 40 Freunden und Gleichgesinnten terre des hommes Deutschland gegründet. Iris Stolz sprach mit ihm über seine Beweggründe, die Anfangsjahre, sein jetziges Engagement und die Frage, was er heute anders machen würde.

Herr Beisel, wie kam es zu der Entscheidung, terre des hommes Deutschland zu gründen?

Als der Vietnamkrieg über die Medien auch immer mehr in die deutschen Wohnzimmer kam, gehörte ich zu den Menschen, die gesagt haben: Da kann man nicht einfach zuschauen, da muss man was unternehmen. Zunächst wusste ich nicht, wo ich anfangen sollte. Aber dann fiel mir eine Zeitschrift in die Hände, in der die Arbeit von Edmond Kaiser, dem Schweizer Gründer von terre des hommes, beschrieben wurde. Da hatte ich spontan den Eindruck: Da ist jemand, der wie ich fühlt und denkt. Ich habe ihm geschrieben, bin eine Woche später hingefahren und kam mit dem Wunsch zurück, terre des hommes auch in Deutschland zu gründen.

Wie haben Sie die ersten Mitstreiter gefunden?

Aufgrund dieses Zeitschriftenartikels waren circa hundert Briefe aus Deutschland an Edmond Kaiser gegangen – von Menschen, die die Arbeit lobten, Menschen, die spenden oder ein Kind adoptieren wollten. Diese Briefe waren mein »Startkapital«. Ich habe damals in der Nähe von Stuttgart gelebt und die dortige Umgebung zuerst angeschrieben oder angerufen und die, die es wollten, besucht. So hatte ich bald die erste Kernmannschaft zusammen. Am 8. Januar 1967 trafen sich dann etwa 40 Leute im Lehrerzimmer der Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart zur Gründungsversammlung.

Womit begann dann die Hilfe für Kinder in Not?

Unsere erste Aufgabe war es, Krankenhausplätze für kriegsverletzte Kinder aus Vietnam zu suchen und diese Kinder mitmenschlich zu betreuen. Um diese Aufgabe herum sind dann viele Arbeitsgruppen entstanden. Da war was zum Anfassen, zum Anschauen, zum Besuchen – also etwas ganz Konkretes. Und die Menschen, die sich um diese Kinder gekümmert haben, sind dann zusammengeblieben. Die ersten Kinder kamen im Frühsommer 1967. Sie landeten in Rotterdam und Zürich. Ich sprang als Kriegsdienstverweigerer über meinen Schatten und konnte die Bundeswehr dafür gewinnen, die Kinder nach Deutschland weiterzufliegen.

Woher kam das Geld für die Flüge?

Edmond Kaiser hatte sein Verhandlungsgeschick genutzt: Die Air France und kooperierende Fluglinien waren bereit, betriebsbedingte Leerflüge kostenlos zur Verfügung zu stellen. Und die Bundeswehr schickte auch keine Rechnung.

Hatten Sie da noch Zeit für etwas Anderes? Geld verdienen? Privatleben?

Am Anfang habe ich das alles nebenberuflich gemacht – und natürlich unter großen Belastungen. Eine erste Krise entstand im Verein, als ich gesagt habe: Wir haben so viel Verantwortung übernommen, wir müssen eine Stelle haben, wo die Krankenakten der Kinder liegen, wo jemand immer ansprechbar ist. Wir brauchen eine hauptamtliche Geschäftsstelle. Aber man wollte keinen Pfennig der Spenden für Gehälter ausgeben. Ich habe dann gesagt: Ich schmeiße alles hin, denn so können wir nicht arbeiten. Es geht nicht, dass das einer immer nach Feierabend macht. Dann wurde in Stuttgart die erste kleine Geschäftsstelle eingerichtet. Dort war ich zuerst ganz allein, später habe ich noch eine Halbtagsschreibkraft bekommen.

Wie kommt es, dass die Geschäftsstelle nun in Osnabrück ist?

Das hängt mit dem Krieg in Nigeria zusammen und zwar so: Die Provinz Biafra wollte sich von Nigeria trennen, der Bürgerkrieg löste eine große Hungersnot aus. Die Illustrierte »Stern« zeigte bis zum Skelett abgemagerte Kinder und ein Sturm des Entsetzens ging damals durch Deutschland. Edmond Kaiser hatte in Verhandlungen die Erlaubnis bekommen, Kinder aus Biafra ins Ausland zu fliegen und in Gabun erreicht, dass das Land die Kinder aufnimmt. Sie mussten dann längere Zeit dortbleiben, und nachdem sie wieder gut ernährt und gesund waren, brauchten sie Lehrer und Betreuer. Wir mussten von Deutschland aus in Gabun ein Kinderdorf aufbauen. Da haben wir Dieter Hartmann, einen Osnabrücker Kaufmann, der sich gerade zur Ruhe setzen wollte, gewinnen können. Er ist nach Gabun gegangen, hat dort mit der Regierung verhandelt und ein Kinderdorf aus dem Boden gestampft. Als terre des hommes durch diese Aktion so gewachsen war, dass ein Mensch in Stuttgart mit zwei Helfern die Arbeit nicht mehr leisten konnte, haben wir Hartmann gefragt, ob er sich am Ausbau der Geschäftsstelle beteiligen und in der Leitung tätig sein wolle. Er hat zugesagt unter der Bedingung, dass das Ganze nach Osnabrück verlegt wird.

Sind Sie dann auch nach Osnabrück gegangen?

Ja. Wir haben die Arbeit in zwei Bereiche geteilt, aber ohne strikte Trennung, um uns gegenseitig ersetzen zu können. Dieter Hartmann kümmerte sich um die Arbeit, die ins Ausland wirkte. Ich kümmerte mich um die ehrenamtlichen Arbeitsgruppen, die Wirkung in die Öffentlichkeit und um die Finanzen. Dann ist das Ganze sehr schnell gewachsen und wir haben Fachreferate gegründet.

Wie lange haben Sie das gemacht?

Bis 1979. Mein Kind »terre des hommes« konnte längst allein laufen, da erreichte mich ein Hilferuf der Bielefelder Waldorfschule. Die dortige Geschäftsführung war nicht mehr ehrenamtlich zu stemmen und ich sah eine Möglichkeit, dabei mitzuhelfen, dass der Mozart, den jedes Kind in sich trägt, nicht mehr ersticken muss. So schön hat es Saint-Exupéry auf den letzten Seiten seines Buches »terre des hommes«, auf Deutsch »Wind, Sand und Sterne«, formuliert. Später durfte ich ähnliche Aufgaben an zwei süddeutschen Waldorfschulen übernehmen und eine dritte gründen helfen. Für mich war es ein Gang zu den Wurzeln. Denn Kinder sind die Wurzeln der Zukunft.

Welches war Ihr schönstes Erlebnis mit terre des hommes?

Das war, als ich mit 20 Adoptivkindern von Saigon zurückgeflogen bin und meine eigene Tochter neben mir saß. Oder auch, wie ich in Saigon empfangen wurde -  mit dieser ungeheuren Wärme. Es war das Gefühl: Ich bin jetzt angekommen. Ich erlebe »terre des hommes« jetzt als realisierbare Utopie.   Wenn Sie zurückblicken - würden Sie aus heutiger Sicht alles genauso machen wie vor 50 Jahren? Manche Entscheidungen würde ich heute anders treffen. Aber diese Klugheit gibt es immer erst hinterher. Wir haben aber immer nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Und wir haben so gut wie immer eine glückliche Hand gehabt. Wir konnten wirklich Not wenden, Zeichen setzen und Zukunft geben.

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Erfolge?

Edmond Kaiser hat seine Briefe oft mit der Formulierung begonnen: »Die gerettet sind, sind gerettet«. Das war die Anerkennung für unsere Arbeit. Danach ging es mit einer Kritik oder mit einer Bitte weiter, die uns oft an unsere Grenzen brachte. Das ist das erste, was terre des hommes bewirkt hat: Die gerettet sind, sind gerettet. Das zweite ist die Ermutigung an uns alle, dass es Hoffnung gibt, dass es Möglichkeiten zum Besseren gibt, dass eine »terre des hommes« mehr ist als eine erdichtete Utopie.

Wo würden Sie heute den größten Bedarf sehen, sich als Kinderhilfswerk zu engagieren?

Der Hunger ist weltweit zurückgegangen und es gibt Fortschritte. Trotzdem sind immer noch viele Kinder in Not: Sie werden missbraucht, als Soldaten, als Arbeitssklaven oder sexuell. Es gibt Diskriminierung, Verletzung und Tötung von Mädchen, es gibt Armut, Hunger, Krankheit, fehlende Teilhabe, Heimatlosigkeit und Zukunftslosigkeit. Wir sind aufgefordert, die Ärmel hochzukrempeln, die Gesellschaft wachzurütteln, sachkundige und liebevolle Hilfe zu gewährleisten. Es geht um Sachkunde, Liebe und Nachhaltigkeit. Und um moralische Fantasie. Wie das im Einzelfall einzusetzen ist, entscheidet sich am Einzelfall.

Welchen Rat würden Sie terre des hommes geben?

terre des hommes macht das meiste richtig: Es ist gut, mit den Betroffenen und ihren einheimischen Unterstützern zusammenzuarbeiten. Es ist wichtig, viel bewusster zu produzieren und zu konsumieren. Damit kann man eine menschengemäße Weltwirtschaft vorantreiben, die die natürlichen Lebensgrundlagen bewahrt. Unerlässlich ist der Blick auf die Bildungsnotstände: Fehlende Lehrer und Schulen. Lehrer, die vielerorts vom Staat genötigt werden, die Kinder zu indoktrinieren. Und Lehrer und Schulen, die davon ausgehen, dass die Kinder als leere Hüllen auf die Welt kommen, die so gefüllt werden müssen, dass sie nahtlos in das bestehende weltwirtschaftliche Gefüge passen. Wenn Kinder sich entfalten dürfen, finden sie die Lösungen der Weltprobleme.

Wofür engagieren Sie sich heute?

Ich habe mitgewirkt an dem Versuch, in Tuttlingen eine Freie Schule zu gründen – leider bisher erfolglos. Im benachbarten Rottweil ist es geglückt. Zusammen mit meiner Frau betreue ich eine 13-köpfige syrische Flüchtlingsfamilie – aufwändig, aber mit schönen Erfolgen. Und seit kurzem wirke ich auch im terre des hommes-Stiftungsrat mit. Da geht es um die Anlage des Stiftungsvermögens und um die Kontrolle der Mittelverwendung. Man sieht, terre des hommes lässt mich nicht los und ich terre des hommes auch nicht.    

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