Die Lehrstunden
Ich hatte mich mit Edmond Kaiser für den zweiten Tag in seinem Büro verabredet. Das Büro war in einer Art verlassener Eckkneipe an einer der steil ansteigenden Lausanner Straßen: Ein großer und hoher, aber etwas heruntergekommener Raum. Dort, wo genügend Licht durch zwei große Fenster fiel, stand der Schreibtisch mit einem alten schwarzen Telefon und am oberen Tischrand lag ein großes Buch mit weißen Blättern. Das Telefon klingelte oft und wurde auch oft aktiv benutzt. Edmond Kaiser machte jedes Mal einen Eintrag in das große Buch, über jedes der Telefonate und nach jeder Tätigkeit am Schreibtisch oder den Regalen mit Ordnern und anderem Material. Mir wurde blitzschnell klar, wie nützlich ein solches Journal sein könne. Ich habe diese Methode übernommen und jahrelang gepflegt. Zwischen den Telefonaten konnten wir uns zwar auch immer wieder austauschen, aber meistens war ich stummer Zeuge seiner Tätigkeit. Es war eine unfreiwillige Lehrstunde in Management. Später kam eine junge Frau hinzu, eine ausgebildete Krankenschwester, die für terre des hommes während ihres Urlaubs in einem Krisenland ehrenamtlich tätig war. Sie übergab Kaiser einige Dokumente und sprach mit ihm über mögliche künftige Einsätze. Sie stammte aus Basel und wollte noch heute dorthin zurück. Wir hatten denselben Weg, und ich nahm sie in meinem Auto mit. Wir hatten gute Gespräche während der Fahrt, die mir weitere Einblicke gaben.
Die Gründung
Zur Gründungsversammlung am 8. Januar 1967 hatte ich Edmond Kaiser nach Stuttgart eingeladen. Er brachte noch den Initiator der Luzerner Arbeitsgruppe zur Unterstützung mit, auch damit er selbst keine große Rede halten musste. Er war sehr wortkarg, und auf die Fragen der Gründungsmitglieder, wie das denn nun praktisch gehe mit der terre des hommes-Arbeit, kam immer nur die Antwort: So, wie Sie es machen.
Ich hatte die beiden Schweizer vorher in meiner Privatwohnung zum Abendessen zu Gast. Der Mann aus Luzern sprach Edmond Kaiser mit seinem Nachnamen an, allerdings wie ihn die Franzosen aussprechen: Käseer
. Meine Frau verstand Käse
und reichte ihm den Käseteller. Das Lachen über dieses Missverständnis wischte alle anfänglichen Fremdheitsgefühle weg und machte aus den vier Beteiligten eine brüderliche, leicht verschworene Runde. Die Stimmung war einer Geburtsstunde würdig. Es gab nur einen ernsten Augenblick, als er mir unhörbar für die Anderen zuflüsterte: Passen Sie auf Ihre Ehe auf!
Edmond Kaiser war wohl ein gebranntes Kind
. Nachdem die Arbeit in Deutschland angelaufen war, traf ich noch ein paarmal in Lausanne mit terre des hommes-Mitarbeitern aus mehreren europäischen Ländern zusammen. Es war erstaunlich, wie Edmond Kaiser in diesen lebendigen und wortreichen Gesprächen in einer bunt zusammengewürfelten Runde einerseits den Ton angab, andererseits aber wirklich zuhörte und jedem anderen im positiven Sinne so ziemlich alles zutraute, gelegentlich auch zumutete.
Der Türöffner
Eine solche Zumutung traf terre des hommes Deutschland bereits 1968. Edmond Kaiser hatte in Verhandlungen mit der provisorischen Regierung Biafras und der Regierung von Gabun erreicht, dass die vom Hungertod bedrohten Kinder im Schutz der Nacht nach Gabun geflogen werden konnten, um dort bis zum Ende des Krieges betreut zu werden. Gabun verlangte aber, dass für diese Kinder ein Kinderdorf mit allen notwendigen – auch medizinischen – Einrichtungen zu schaffen sei. Kaiser selbst und fast alle europäischen terre des hommes-Arbeitskreise hatten jedoch weder die organisatorischen noch die finanziellen oder technischen Voraussetzungen, eine solche Aufgabe zu schultern. So warf er uns in Deutschland diese Aufgabe mit seinen typischen, lakonischen, oft nur fünf Zeilen umfassenden Briefen vor die Füße, nachdem er vorher immer mit Blick auf unseren deutschen Zweig vor der Gefahr gewarnt hatte, dass terre des hommes-Gruppierungen zu groß und zu bürokratisch werden könnten. Wie durch ein Wunder fanden wir seinerzeit die Menschen, die Mittel und die Kraft, uns dieser Aufgabe zu stellen. Edmond Kaiser war der Türöffner, und terre des hommes Deutschland ist durch diese Türen gegangen. Für diese junge Organisation ergab sich daraus neben einer riesigen Kraftanstrengung gleichzeitig ein wesentlicher personeller und organisatorischer Wachstumsschub und – parallel zu den Rettungsaktionen für vietnamesische Kinder – eine weitere hohe Reputation in der Öffentlichkeit. Später schaltete sich der in Genf beheimatete Weltrat der Kirchen in die Biafra-Arbeit ein und übernahm die Hauptlast dieser beispiellosen Rettungsaktion.