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Orte der Sicherheit und des Vertrauens

Chile: Freie Kindergärten in den Armenvierteln von Santiago

In den armen Randvierteln der chilenischen Hauptstadt Santiago, den sogenannten Poblaciones, sind die Kindergärten des Red CEC* Orte der Sicherheit und des Vertrauens inmitten von Gewaltkriminalität und Drogenhandel. Wir sprachen mit Rosani Lagos und Valentina Campos, die den Kindergarten des Red CEC in der Población La Victoria leiten.

Was ist zurzeit das größte Problem in La Victoria?

Rosani: Die größten Probleme sind die Gewalt und der Drogenkonsum. Die Beziehungen unter den Nachbarn haben sich dadurch geändert. Viele Leute sind weggezogen. Sie kamen damit nicht zurecht. Aber es gibt immer noch viele soziale Organisationen hier. Soziale Arbeit zu machen, braucht jetzt viel Kraft und Ausdauer. Aber wir kapitulieren nicht. Wir machen weiter. 

Valentina: Es gibt Gangs, die sich um Territorien streiten. Das hat Auswirkungen auf alle. Diese Población war immer sehr menschlich und solidarisch, aber der Individualismus hat mehr und mehr Raum eingenommen. Die Solidarität geht verloren.

Was unterscheidet einen Kindergarten des Red CEC von anderen Kindergärten?

Valentina: Wir sind nicht nur ein Kindergarten. Wir arbeiten mit den Familien, mit der ganzen Población. Wir wollen keine Insel sein. Andere Kindergärten bleiben in ihren Räumen, schon aus Gründen der Sicherheit. Aber wir wollen auf die Straße gehen. Wir arbeiten mit der gesamten Gemeinschaft und wollen uns vor den Problemen nicht verstecken.

Rosani: Die Leute glauben an uns und wir machen weiter. Wir verstecken uns nicht. Wir gehen raus mit den Kindern, demonstrieren für Frieden und Gewaltlosigkeit. Wir wollen sichtbar sein. Und ich glaube, das zeigt Wirkung. Wir sind hier sehr anerkannt.

Besucht ihr die Familien auch zuhause? 

Rosani: Sehr oft. Wenn wir sehen, dass es einem Kind nicht gut geht, besuchen wir die Familie. Wir fragen, was los ist, wenn ein Kind nicht kommt. Wir helfen auch, wenn Familien etwas brauchen. Wir haben kein Geld, sie finanziell zu unterstützen. Aber wir können zur Stadtverwaltung gehen und ihnen helfen, staatliche Unterstützung zu bekommen. 

Gibt es wegen der Gewaltprobleme eine ausländerfeindliche Stimmung? 

Rosini: Es gibt Leute, die sagen, die Gewalt hat mit der Immigration zugenommen. Aber die meisten sagen: Die Migrant*innen sind genauso arm wie wir. Sie arbeiten genauso hart wie wir. Es gibt keinen Unterschied. Die meisten sind hier gut integriert. Aber ja, es gibt auch Migrant*innen, die unsere Offenheit ausnutzen. Narcos haben zum Beispiel Grundstücke gekauft und vermieten sehr kleine Häuschen für viel Geld an andere Migranten-Familien. Sie nutzen ihre Notlage aus.

 Wie hilft den kommunalen Kindergärten die Vernetzung?

Rosini: Die Vernetzung ist ein großer Gewinn. Sie stärkt uns und unsere Arbeit. Aktuell bearbeiten wir die Themen Geschlechtergerechtigkeit, Umweltschutz und Friedenserziehung. Wir überlegen, wie wir sie am besten in unsere Erziehungsmethoden einbauen können. Zu jedem der drei Themen gibt es eine Kommission, in die jeder der zwölf Kindergärten des Red CEC eine Vertreterin entsendet. Wir lernen sehr viel voneinander.

Wir kann man beispielsweise Umweltschutz so kleinen Kindern beibringen?

Rosini: Wir gehen zum Beispiel an einen öffentlichen Platz und sammeln den Müll ein. Die Kinder sollen lernen, den öffentlichen Raum zu schützen und für die Erwachsenen ein Beispiel geben. Wir erzählen ihnen auch, dass andere Leute wenig Wasser haben, und dass man sparsam damit umgehen soll. Sie lernen, Verantwortung zu übernehmen. 

Was unternehmt ihr, wenn ein Kind erzählt, dass sein Papa seine Mama oft schlägt?

Rosini: Wir versuchen, das Kind etwas abzulenken, und forschen gleichzeitig nach, was in der Familie los ist. Wir können leider nicht sehr viel machen. Aber vielleicht besuchen wir die Familie und fragen nach: Hallo, wie geht´s? Euer Kind ist in letzter Zeit sehr nervös. Oder traurig. Woran könnte das liegen?

Ist manchmal auch nötig, der Kindesschutzbehörde Bescheid zu geben?

Valentina: Ja, wenn die Situation zuhause sehr schlimm ist, ist das manchmal nötig. Die Leute erschrecken sich dann. Sie denken, man wird ihnen das Kind wegnehmen. Manchmal gehen sie auf Distanz. Das ist dann sehr übel, wir wollen das vermeiden. Die Familien sollen wissen: Wir wollen sie nur unterstützen, nicht anklagen. Aber wir sind Erzieherinnen, keine Psycholog*innen. Wir können nicht für alles zuständig sein. Aber das wird oft erwartet.

Rosini: Es ist der Staat, der die Kinder schützen und auf schwierige Situationen reagieren muss. Wir müssen mit ihm zusammenarbeiten. Aber wenn die Familien ihre Kinder nicht mehr herschicken, ist das sehr traurig. Deshalb müssen wir sehr vorsichtig sein in solchen Fällen.

Das ist kompliziert…

Rosini: Ja, sehr. Es ist auch keine Lösung, wenn das Kind aus der Familie herausgenommen wird. Die Kinderheime sind auch nicht gut, oft schlimmer als die eigene Familie.

Was kann man tun?

In vielen Fällen können wir nur unseren eigenen Raum zu einem Ort des Friedens machen. Ein Ort, wo das Kind sich wohlfühlt. Wo es spielen und sich freuen kann. Die Kinder sind von 8:30 Uhr bis 16:30 Uhr hier. Das ist eine lange Zeit.

Gibt es Kinder, die nicht nach Hause wollen?

Valentina: Die Kleinen nicht, sie wollen zur Mama. Aber bei den größeren gibt es das durchaus. Manche Kinder werden von ihren Eltern schlecht behandelt. Oder sie bekommen ein Handy, damit sie nicht stören. Wir haben ein Kind, das mit seiner Mutter allein in einem Zimmer lebt, und die Mutter arbeitet im Schichtdienst. Wenn sie Nachtschicht hat, bleibt das Kind allein. Eingeschlossen. 

Wie kann die Gewalt eingedämmt werden? Die Polizei hilft nicht? 

Rosini: Nein, die Polizei hilft nicht. Ich glaube, es ist wichtig, den Mund aufzumachen, die Dinge beim Namen zu nennen. Letztes Jahr gab es hier in der Nähe eine Schießerei, bei der drei junge Menschen starben. Ein 13-jähriges Mädchen, das wir gut kannten, war auch dabei. Sie war in der Jugendarbeit aktiv. Aber wir lassen und nicht einschüchtern. Wir gehen weiter auf die Straße – mit den Kindern. Trotz aller Angst. Wir müssen sichtbar bleiben, man soll uns hören. Die Familien unterstützen uns. Wir werden sehr respektiert. Wir arbeiten nicht mit geschlossener Tür. Wir sind Teil dieser Gemeinschaft.

*Netzwerk kommunaler Bildungszentren/Red de Centros de Educación Comunitaria