6. Februar: Besuch des Viertels Caracoli
Heute besuchten wir zwei Häuser der Fundacion Creciendo Unidos (FCU) – Stiftung des vereinten Wachsens. Beide Projektstätten sind in einem Viertel südlich von Bogota, das als sozialer Brennpunkt angesehen wird.
Das Viertel heißt Caracoli. Es ist ein Häusermeer, die Häuser sind ineinander verschachtelt. Markant sind die roten Ziegelsteine, die meisten Häuser sind unverputzt. Es sind steile Hänge, an denen sich die Hauser festkrallen…. Die Hauptstraße ist stark befahren. Viele Kolumbianer*innen gehen die Straße zu Fuß entlang. Kleine Gewerbebetriebe bieten ihre Waren und Dienste an: Autowerkstätten, kleine Handwerksbetriebe, aber auch Drogerien und Einzelwarenhändler.
Wir treffen uns an einem Platz, der so angelegt ist, dass die Möglichkeit zum Ballspiel, Sporttreiben oder anderen Freizeitaktivitäten gegeben ist. Unser Projektpartner von Creciendo Unidos weist uns auf einen einsam stehenden Eukalyptusbaum am Horizont hin (siehe Foto).
1950 haben sich hier zwei Personen erhängt. Der Baum hat eine symbolische Kraft und wird heute als kulturelles Erbe geschützt. 1950 gab es viele soziale Unruhen. In dieser Gegend waren Drogengeschäfte und militärische Konflikte lange Zeit an der Tagesordnung. Am 11. Oktober 1993 fand hier ein bedeutender Streik statt. Der Verkehr wurde boykottiert. Die Einwohner forderten durch die Verkehrsblockade ihre politischen Bürgerrechte ein. Sie wollten, dass der Staat bzw. die Kommune ihnen alle notwendigen Dienste wie Wasser, Gas, Öl und Strom unter angemessenen Bedingungen zur Verfügung stellt. In dieser Zeit wurde das »blaue Coca« als Energiequelle zum Kochen aus politischen Gründen billig angeboten. Die Häuser waren teilweise illegal und aus billigen Materialien wie Kartons gebaut. Heute sind die Häuser aus Ziegelsteinen und Betondecken und -säulen errichtet. Das Viertel Caracoli ist ein Viertel der Vertriebenen. Hier sammeln sich schon seit längerer Zeit viele gesellschaftliche Randgruppen. Heute sind es viele Migranten aus Venezuela und andere Menschen, die in die Stadt kommen, um Arbeit zu finden und sonst nirgendwo eine Wohnung finden können. 2015 gab es hier einen großen Protestcamp. Die Bewohner lehnten sich gegen Investoren auf, die den Bergbau ausweiten wollten und das noch unbebaute Land, wo jetzt der Olivenbaum steht, opfern wollten. Der Protest hatte Erfolg. Das Gebiet um den Olivenbaum herum ist heute nationales Denkmal, also ein kulturelles Erbe, das geschützt wird. Es ist ein auch ökologisches Schutzgebiet. Die Gegend ist wüstenähnlich. Nur kleine Bäume wachsen hier. Der niedrige Bewuchs und die grüne Fläche wird „Paramo“ genannt. In dieser Gegend hat man auch alte Mauerzeichnungen von frühen indigenen Gruppen gefunden. Es gibt auch einen Natursee mit erhöhtem Schutzbedarf. Die Umweltschützer dieser Gegend wurden von bewaffneten Gruppen bedroht, beauftragt von den Kapitalgesellschaften, die in diesem Gebiet neue Häuser bauen wollten. Auf dem Bild links neben dem Olivenbaum sehen wir in der Siedlung eine blau grüne Fassade. Hier ist ein kommunales Schulprojekt untergebracht. Daneben ist eine weiße Wand. Sie wird als Projektionsfläche eines kommunalen Kinos genutzt.
Wir sind hier im Grenzland zur Stadt Bogota. Hier existieren viele paramilitärische Gruppen. Sie erpressen Schutzgelder und betreiben illegale Geschäfte wie zum Beispiel Handel mit illegalen Autos. Interessen werden mittels Schmiergelder durchgesetzt. Es finden gewaltsame Vertreibungen statt. Die Gesellschaft ist zweigeteilt. Auf der einen Seite haben wir eine große Armut, betroffen sind die Bewohner, die hier in dem Viertel unterkommen müssen. Auf der anderen Seite haben wir reiche Familien, die über Macht und Geld verfügen und versuchen, ihre Interessen durchsetzen. Zwar ist die FARC aufgelöst, doch gibt es heute neue Gruppen, die mit Waffen ihre Interessen durchsetzen. Unverständlicherweise finden diese Gruppen in der Gesellschaft Rückhalt und werden unterstützt (hierzu haben wir noch keine abschließende Meinung). Auffallend sind Graffiti an den Wänden, die uns der Projektpartner erklärt: Hassparolen, stark rechts orientiert, auch Hassparolen gegen Afrikaner oder Afro-ethnische Gruppen. Vor zwei Jahren, also 2022, wurden hier im Stadtviertel zwei Bomben gezündet. Es fanden Morde an Jugendlichen statt.
Die Gegend ist heute stark stigmatisiert. Das heißt, wer von hier kommt, findet nur schwer Arbeit. Die Jugendlichen von hier kriegen in der Regel keine Arbeit. 2021 war die Gegend im Ausnahmezustand. Es gab Übergriffe durch die Polizei und Kämpfe von paramilitärische Gruppen. Es gab viele Tote. Es ist schwierig, Polizei und illegale-paramilitärischen Gruppen zu unterscheiden – es besteht eine Abhängigkeitsbeziehung oder Geldbeziehung zwischen beiden (dazu können wir uns nicht abschließend ein Urteil bilden). Hier setzt die Sozialarbeit an. Die Projekte versuchen, mit Kultur, Kunst, Theater und Musik, Kinder und Jugendliche anzusprechen, um ihnen eine Lebensperspektive zu geben und sie nicht den militärischen Gruppen zu überlassen.
Wir schauen uns ein Projekt der FCU im Gebäude der »Cocina popular« an. Seit mehreren Jahren bildet ein Bäcker hier Jugendliche und junge Erwachsene im Backhandwerk aus. Zehn Personen haben mittlerweile die Ausbildung erfolgreich beendet, vier betreiben inzwischen eine eigene Bäckerei. Zehn weitere Personen sind zurzeit in der Ausbildung. Die Ausbildung findet nebenberuflich statt. Zwischen zwei und sechs Stunden an vier Tagen in der Woche. Der Lehrer des Backhandwerkes ist gleichzeitig auch Lebensmittelingenieur. Er vermittelt neben den Backfertigkeiten auch theoretisches und praktisches Wissen über gesunde Ernährung.
Wir haben die Gelegenheit von einer ausgebildeten Bäckerin die Köstlichkeiten zu probieren. So wurden Croissants, Teigtaschen, Brötchen und Hot Dogs im Brotteig für jeweils 2.000 Pesos (50 Cents) angeboten.
Wir besuchten anschließend den Kräutergarten auf der Terrasse. Auch hier wird den Kindern und Jugendlichen, praktisches Wissen für den Umgang mit Kräutern beigebracht. Es sind »Haltepunkte« für Kinder, die im Gewaltumfeld groß werden oder negative Migrationserfahrungen haben.
Wir gehen weiter und besuchen die Küche. Hier kochen Frauen seit 13 Jahren für die Speisung der Bewohner der Community. Unter dem Slogan Lebenssuppe“ werden verschiedene Gerichte, vegetarisch oder mit Fleisch, Burrito oder Eintöpfe, ergänzt durch Obst, Gemüse und Säfte angeboten. Wir selbst konnten die frisch zubereitete Mahlzeit im Rahmen eines Festes, das anlässlich unseres Besuchs aus Deutschland organisiert wurde, einnehmen.
Unser nächster großer Aktionspunkt ist der Besuch einer Kita.
Die Kindertagesstätte mit einer pädagogischen Betreuung bietet zurzeit Platz für zwölf Kinder. Während des Tages findet die Betreuung statt. Die Kinder erhalten Frühstück, Mittagessen und Zwischenmahlzeiten. Die Kinder lernen die Buchstaben, die Farben und die Zahlen. Sie lernen Lieder und spielen Theater. Für uns singen sie gemeinsam ein Lied.
Wir unsererseits haben danach das Lied »die Nase ist weg« den Kindern vorgesungen und vorgespielt. Angelika übergab danach den terre des hommes-Globus an die Kindertagesstätten-Leiterin und an die Kinder.
Der letzte große Highlight war der Besuch vom »Casa Taller Annemarie«.
Valerie und Martinez, die Kinder von einer Mutter einer Familie, die aus Venezuela migriert ist. tanzen für uns einen. kolumbianischen Tanz. Valerie ist ein elf Jahre altes Mädchen. Martinez ist ihr Bruder.
Das Haus hat sich das Motto gegeben: PAZ, AMOR, AMISTAD, COMPARTIR – Frieden, Liebe, Freundschaft, Teilen.
Annemaria war eine deutsche Professorin aus Mönchengladbach, gestorben 2017, deren Familie unter den Nazis umgebracht wurde. Sie engagierte sich in Kolumbien für Kinder und baute dieses Haus über Spenden auf.
Das Casa Taller Annemarie befasst sich mit Kinderrechten und mit Frauenrechten, gerade von jungen Frauen. Hier gibt es Raum für die Probleme von Frauen, Kindern und Jugendlichen gegeben. Die Kinder führen uns ihren Podcast vor. Sie erklären uns, dass sie einen Besprechungsraum nutzen, wo sie über Ihre Probleme sprechen und eine entsprechende Beratung erhalten können. Sie haben an der »Rote Hand«-Aktion teilgenommen. Das heißt, sie sind sensibilisiert für die Gefahr von Kindern an Waffen, sei es, durch die staatliche Armee oder über paramilitärische Gruppen. Pädagogik selbst wird als Fach für die älteren Kindern ab 14 Jahren angeboten und in den Grundzügen vermittelt. Aus dieser Gruppe heraus sind Delegierte hervorgegangen, die in einem größeren organisatorischen Zusammenhang Gehör finden und sich so politisch für die Kinderrechte einsetzen. Es finden auch Vorträge für Frauen statt. Es gibt eine aktive Frauengruppe, in der psychischen Probleme besprochen werden und ein Erfahrungsaustausch stattfindet. Wir haben alle zusammen Mittag gegessen. Die Kinder wurden zuerst bedient, dann die Erwachsenen.
Angelika, die im Projekt angestellte Psychologin, berät seit 2020 Migranten und Migrantinnen aus Venezuela. Die Teilhabe von Kindern aus Migrantenfamilien am gesellschaftlichen Leben ist ein. wesentlicher Aspekt der Unterstützungsarbeit. Für die verschiedenen Gruppen, Kindern, Jugendliche und Frauen werden Aktivitäten angeboten. Beispielsweise werden Gerichte gemeinsam zubereitet oder Sport wird gemeinsam getrieben. Neben der psychologischen Beratung werden Kinder betreut, wenn zum Beispiel die Mutter auf Arbeitssuche ist.
Aus der Frauenarbeit stellt die Tanzgruppe, die seit 14 Jahren bereits Tänze einstudiert, uns einen kolumbianischen Tanz vor. Das Motto des Tanzes erklärt die Leiterin der Gruppe: Es gibt keine Grenzen, Brüderlichkeit, ist das, was wir wollen. Es gibt keine Unterschiede zwischen Venezuelerinnen und Kolumbianerinnen. Wir sind alle Brüder und Schwestern.
Das Projekt zur Betreuung von Migranten aus Venezuela hat zwei Zielrichtungen. 1) die humanitäre Zielrichtung. Das heißt, es gilt die Menschen mit dem Notwendigen zu versorgen. Und zum anderen 2) die Zielrichtung der sozialen Entwicklung. Insgesamt konnten psychologische und politische Dienste für 1.500 Personen angeboten werden. Dabei handelt es sich um Ausbildung, um Sexualerziehung, um Aufklärung über Menschenhandel, Zugang zu Rechten, Kinderrechte und Menschenrechte für Migranten. So konnte erreicht werden, dass die Flüchtlinge, ein Bankkonto erhalten konnten, einen Führerschein machen konnten, und ein Studium beginnen konnten. Die Nahrungssicherheit konnte gewährleistetet werden. In Bogota wurden 3.000 Personen erreicht. Sie erhielten eine Aufenthaltsgenehmigung und Projektunterstützung. Gerade alleinerziehende Mütter erhielten psychologische und soziale Beratung. Alleinerziehende Frauen haben ihre Familien oft zurückgelassen. Sie arbeiten in niedrigbezahlten Positionen, als Verkäuferinnen. Bedienungen u.a. Die sozialen Bedingungen sind oft schwierig. So haben drei Familien, 24 Personen, sich einen Raum geteilt. Die Kinder haben oft Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Der Zugang zur Schule wird ihnen durch Lernhilfen von dem Projekt erleichtert. Partizipation und Teilhabe werden unterstützt. Die Kinderstimmen wurden gehört und konnten auch den Entwicklungsplan für Migranten in Kolumbien positiv beeinflussen. Die Kinder und Jugendlichen diskutieren ihre Probleme und versuchen, eine Lösung zu finden. Die politische Wirkung wird durch drei Säulen erzielt: 1) die Bildung. 2) die Organisation und 3) der Dialog. In der Säule Organisation werden Delegierten gewählt, die wiederum in einer Delegiertenkonferenz ihre Erfahrungen austauschen und so politische Wirkungen erzielen. Es gibt auch eine Brücke zu „arbeitenden Kindern“ in Venezuela. Die arbeitenden Kinder gibt es als Organisation in mehreren Ländern Lateinamerikas. Hier ist eine Projektkooperation erfolgt.
An jedem Wochentag bietet das Projekt Programmpunkte an. Samstags, sonntags werden gerne Feste und Veranstaltungen angeboten. Die Arbeit findet jetzt seit 12 Jahren in diesem Haus statt. Die Kinder bekommen jeden Tag eine Mahlzeit. Essen für die Community ist jetzt dreimal die Woche. Während der Pandemie, wurde im Rahmen der Aktion „Suppe fürs Leben“ täglich 300 Personen verköstigt.
Die Projektorganisatoren haben sich bei terre des hommes herzlich für die Unterstützung bedankt.
Am Ende der Veranstaltung wurde live Salsa gespielt und wir haben alle miteinander getanzt.
(Bilder und Text: Kurt Lehberger, 6.2.2024)