Chakawak lernte früh, dass Rechte und Freiheit hart erkämpft werden müssen. Sie wuchs als Tochter einer bekannten Anwältin und Frauenrechtsaktivistin in Panjshir auf: »Leute sagten, meine Mutter sei eine Ungläubige. Manche wollten sie sogar umbringen.«
Auch zu Hause herrschte Gewalt. Der drogenabhängige Vater misshandelte sie und ihre. »Er wollte meiner Mutter die Arbeit verbieten und mich von der Schule nehmen. Und als ich zwölf Jahre alt war, wollte er, dass ich heirate.« Für ihre Mutter war eine Scheidung mit großem Risiko verbunden Dennoch nutzte sie ihr Netzwerk, um sich schließlich zu trennen und mit ihren Kindern auszuziehen. Sie wurde Chakawaks Vorbild. »Meine Mutter hat mir gezeigt, dass man kämpfen kann. Und muss.« Chakawak wurde eine herausragende Schülerin, interessierte sich für Lyrik und Philosophie, wurde Jugendsprecherin ihrer Provinz in Kabul und plante zu studieren.
Dann kam der Tag, der alles veränderte. Sie war 15, es war der letzte Tag ihrer Abschlussprüfungen. »Der Direktor kam ins Klassenzimmer und sagte: ‚Die Taliban haben Afghanistan übernommen.‘ «
In Panjshir brachen Kämpfe aus – ihre Mutter organisierte Proteste, Chakawak schloss sich an. Viele Mitstreiter*innen wurden festgenommen, gefoltert, manche ermordet. Die Taliban fahndeten auch nach ihrer Mutter. Ihr Vater, der sich schon früher den Taliban angeschlossen hatte, suchte Chakawak, und arrangierte ihre Zwangsverheiratung mit einem ranghohen Taliban-Kämpfer. Als sie davon erfuhren, floh die Familie Hals über Kopf nach Kabul.
Mit 16 musste Chakawak lernen, im Untergrund zu leben. »Ich hatte ständig Angst, dass die Taliban uns finden. Oder mein Vater.« Ihre Mutter kämpfte unermüdlich, versuchte, sie und ihren Bruder in Sicherheit zu bringen. Die einzige Hoffnung war ihre Zusammenarbeit mit einer deutschen Menschenrechtsorganisation
Doch die Anforderungen des Bundesaufnahmeprogramms schienen kaum überwindbar: »Es dauerte Wochen, bis wir Beweise für die Verfolgung und alle anderen Dokumente zusammenhatten. Jeder Kontakt nach außen war lebensgefährlich. Wie soll man auf der Flucht beweisen, dass man verfolgt wird? Dass mein Vater will, dass ich einen Talib heirate?«
Inzwischen beschlagnahmten die Taliban ihr Haus, bedrohten Verwandte, verhafteten und folterten Kolleg*innen, die Mutter erhielt Drohanrufe
Doch das Aufnahmeverfahren war undurchsichtig, langwierig und kompliziert. Nach einigen Monaten erhielten sie endlich eine Zusage von der zuständigen deutschen Behörde, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Nun mussten sie noch die Visaverfahren in der deutschen Botschaft in Islamabad, Pakistan, durchlaufen.
Wieder standen sie vor enormen Hürden: »Wie kommen wir nach Pakistan? Woher sollten wir tausende Dollar herbekommen für die Visa? Und wie ohne männliche Begleitung reisen?« Die deutschen Behörden verweigerten Unterstützung bei der Ausreise von alleinstehenden Frauen – man müsse sich an Taliban-Recht halten, und das verbiete Frauen, ohne männlichen Vormund zu reisen. Sie liehen sich das Geld von einem Onkel. »An der Grenze mussten wir so tun, als gehörten wir zu einer anderen Familie. Ich hatte solche Angst, dass sie uns erkennen.«
Doch auch Pakistan bot keinen Schutz. Der Vater konnte sie jederzeit mit Gewalt zurückholen. In der deutschen Botschaft begann das Visumverfahren: erneute Prüfungen, erneute Befragungen. Dann hieß es warten – für Monate.
»Einigen wurde die Aufnahmezusage wieder entzogen, ohne Begründung. Was würde passieren, wenn auch unser Fall abgelehnt wird? Dann werden die Taliban uns töten.«
Dann die Nachricht der Botschaft: Ohne Erlaubnis des Vaters zur Ausreise der Kinder – keine Visa. »Ich dachte, das war’s. Dass ich nie frei sein werde. Dass er wieder Macht über mich hat.« Ihre Mutter wurde vorgeladen, erklärte wieder, dass ihr Mann eine Gefahr sei. Doch die Botschaft blieb dabei.
Die Mutter ging ein hohes Risiko ein und kontaktierte Gemeindevorsteher in ihrem Heimatort. Sie hatten Glück, die alten Freunde halfen. Dem Vater wurde gesagt, die Familie sei bereits in Deutschland, brauche aber eine Bescheinigung für die Krankenversicherung. Er ließ sich die Zustimmung bezahlen – aber er gab sie.
Dann die Erlösung: Der Flugtermin wurde mitgeteilt, sie wurden zum Flughafen gebracht. »Doch bis kurz vor dem Boarding verwehrte uns die deutsche Botschaft die Aushändigung unserer Pässe. Noch in der Schlange wurden Personen von der Bundespolizei rausgezogen. Wir hatten große Angst, dass auch wir nicht mitgenommen werden. Bis zur letzten Sekunde lagen unsere Nerven blank.«
Heute ist Chakawak 19 Jahre alt und lebt in Deutschland. Die Angst um ihre Freundinnen in Afghanistan bleibt: »Die meisten meiner Freundinnen wurden gezwungen, zu heiraten. Sie haben nichts mehr. Keine Rechte, kein Leben. Immer häufiger höre ich von Suiziden.«
Auch die Sorge, dass Deutschland Afghan*innen wieder abschiebt, bedrückt sie. Aber die Taliban und ihr Vater sind jetzt weit weg und Chakawak träumt wieder: »Ich will wieder Gedichte schreiben. Astrophysik studieren. Frei sein.«