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Nassims Geschichte

Nassim hatte eine behütete Kindheit. Seine Familie stammt aus Parwan, aber lebte schon lange in Kabul. Der Vater arbeitete für die amerikanischen Truppen bei einer Reparaturfirma für Militärfahrzeuge. Sein Großvater machte sich deshalb Sorgen, was aus der Familie werden solle: »Mein Großvater hat immer gesagt: ‚Eines Tages kommen die Taliban, und dann ist alles vorbei‘.« Doch die Arbeit ermöglichte ihnen ein gutes Leben und den Kindern die Chance auf Bildung. 

Als die Eltern wegen der Arbeit mit den vier kleineren Geschwistern nach Parwan zogen, blieben Nassim und seine ältere Schwester, die Jura studierte, in Kabul und wurden von den Großeltern, ihrer Tante und ihrem Onkel in Kabul gut versorgt. »Meine Tante hat sich um mich gekümmert wie meine Mutter. Ich habe mich nie allein gefühlt.« Nassim ging gern zur Schule, hatte Freunde, trieb Sport. In den Ferien besuchte er seine Familie in Parwan. 

Doch die Taliban gewannen immer mehr Macht. Einmal wurde eine Bombe in ihren Hof in Parwan geworfen, nur mit Glück wurde niemand getötet. Sein Vater arbeitete weiter für die Amerikaner. »Er meinte, Geld schützt am besten, und es sei sowieso zu spät – alle wissen, für wen er arbeitet.« Was das zu bedeuten hatte, verstand Nassim erst spät. Im Juli 2021 kam der Vater mit der restlichen Familie nach Kabul und holte ihn ab.   Erst als sie zur afghanisch-iranischen Grenze fuhren, verstand Nassim, dass dies eine Flucht war. Und sie kam gerade noch rechtzeitig – wenige Tage später übernahmen die Taliban Herat und dann auch Kabul. 

Sie konnten sich für zwei Monate bei einer Bekannten verstecken, dann traf der Vater die Entscheidung zur Weiterflucht: Iran war kein sicherer Ort, denn es drohte immer die Abschiebung nach Afghanistan. 

Auf der Flucht in die Türkei wurden sie getrennt, denn Nassim war fitter – er konnte schneller laufen und wurde nachts zu Fuß über die Berge gelotst. Er hatte Glück, und nach ihm schaffte es seine Familie ebenfalls über die Grenze. Doch auch die Türkei war nicht sicher:   Wen die türkische Polizei zu fassen bekam, wurde direkt nach Afghanistan abgeschoben. Sein Vater entschied, dass Nassim probieren müsste, nach Europa zu kommen – je schneller, desto besser. Die Familie wollte dann folgen. 

Er wurde von griechischer Polizei gefasst: »Sie haben meine Sachen verbrannt. Ich hatte nur noch eine Hose. Keine Schuhe, kein Handy. Nichts.« Er versuchte es erneut und schaffte es nach Athen. Der Vater schickte Geld für die weitere Flucht. Nachdem er tagelang mit vier anderen in einem LKW eingepfercht gewesen war, kam er völlig erschöpft aber lebend in Deutschland an. 

Seine Familie hatte das Glück nicht. Sie probierten mehr als zehn Mal nach Griechenland zu kommen und scheiterten jedes Mal. Irgendwann gab der der Vater auf, doch die Eltern wollen, dass sein kleiner Bruder es allein probiert. Nassim ist hin und her gerissen: »Ich will nicht, dass er kommt. Er ist zu jung und die Flucht ist zu gefährlich, besonders für Kinder. Aber was, wenn meine Eltern Recht haben? Vielleicht ist es besser, sein Leben zu riskieren, um Hoffnung auf eine Zukunft zu haben, als gar keine Hoffnung und gar kein Leben.«

Denn er weiß, dass es in der Türkei keine Perspektive für afghanische Geflüchtete gibt. Früher oder später werden sie wieder nach Afghanistan abgeschoben.

Nassim hört von Freunden, was ein Leben in Afghanistan bedeutet: »Alles ist kontrolliert – die Kleidung, die Frisur, was man spricht. Und wohin sollte man gehen, außer in die Moschee? Es gibt keine Arbeit. Wer noch irgendetwas zu verkaufen hat zahlt meist mehr ‘Standgebühren’ an die Taliban als man verdienen kann. Wenn man kein Geld für Essen oder Medikamente hat, muss man klauen und ist wieder in Gefahr gefasst und misshandelt zu werden. Man lebt in ständiger Angst. Ich frage mich manchmal: Sind die Taliban Menschen oder Teufel?«

Auch zuhause ist man nicht sicher oder frei. Seine Freunde erzählen, dass es jederzeit passieren kann, dass ein Nachbar versucht, sich vor ihrer Gewalt zu schützen, indem er einen als Taliban-Gegner verleumdet. Sie brauchen keinen Grund für Gewalt und Festnahmen. Aber irgendetwas finden sie bei Hausdurchsuchungen immer – eine ausländische Nummer auf dem Handy, ein falscher Film auf dem Laptop, Musik. Alle misstrauen allen. 

Seine Schwester wohnt bei ihren Großeltern und der Familie ihres Onkels in Kabul. Sie war Jurastudentin, hat das Studium abgebrochen. Jetzt ist sie Hebamme – der einzige Beruf, den Frauen zumindest in stark kontrolliertem Maß ausüben durften. Doch auch die Ausbildung von Hebammen wurde nun von den Taliban verboten. »Sie ist eine kluge und mutige Frau. Aber sie nimmt stark ab. Sie leidet und hat Angst. Ich mache mir große Sorgen um sie.«

Die Angst um Familie und Freund*innen macht es ihm schwer, sich zu konzentrieren und zu lernen. Er ist oft krank. Ein Praktikum musste er abbrechen. Aber er ist entschlossen den Hauptschulabschluss zu schaffen, dann die Abendrealschule und das Abitur. Und er hält an einer Hoffnung fest: Dass die Taliban eines Tages aus seiner Heimat verschwinden.