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Die Ungleichheit wächst - Lateinamerikanische Kinder und Jugendliche in der Pandemie

Texte: Ação Educativa, Centro de Servicios Educativos en Salud y Medio Ambiente, Corporación Amiga Joven y Museo de la Palabra y la Imagen
Redaktion und Koordination: Fabiana Vezzali
Edition: Bianca Pyl
Lektorat: Bruna Leite, Josephine Wragge und William León
Graphikdesign: Dora Lia Gomes - Dillasete
Übersetzung: Cordi Thöny, Sandra Fenkl
Leicht gekürzte Version 2020

Vorwort

Dies ist eine Publikation des Regionalprojekts Interpaz, das sich mit der Teilhabevon Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen für eine Kultur des Friedens und für Gendergleichheit in Lateinamerika einsetzt. Implementiert wird das Projekt von Organisationen in vier Ländern: Ação Educativa in Brasilien, Corporación Amiga Joven in Kolumbien, Museo de la Palabra y la Imagen in El Salvador und Centro de Servicios Educativos en Salud y Medio Ambiente (CESESMA) in Nicaragua. Das Projekt wird von terre des hommes Deutschland und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ko-finanziert.

Die Covid-19-Pandemie hat in vielen Ländern zu einer Verstärkung sozialer Ungleichheiten und mehr Gewalt geführt. Kinder und Jugendliche in Lateinamerika sind besonders stark davon betroffen. Gemeinsam mit unseren Bündnispartnern machen wir uns Gedanken zum Weg, den wir im vergangenen Jahr in unserem Einsatz für die Rechte von Kindern und Jugendlichen zurückgelegt haben, analysieren Erfahrungen, Schwierigkeiten und Anpassungen, die die Corona-Pandemie in unserer Arbeit gefordert hat.

Fabiana Vezzali
Koordination Regionalprojekt Interpaz

www.tdh-latinoamerica.de

 


Bemerkung

Einige Erlebnisberichte und Aussagen von Kindern und Jugendlichen in dieser Publikation sind Befragungen und Konsultationen der Programmkoordinationsstellen von terre des hommes Deutschland in Zentralamerika und Mexiko, im Cono Sur (südliches Südamerika) und in Kolumbien (kolumbianische Plattform für Kinder- und Jugendprotagonismus) entnommen.

Lateinamerika: Ungleichheiten in Zeiten der Pandemie

Die Covid-19-Pandemie hat im vergangenen Jahr nicht nur weltweit Millionen von Menschenleben gefordert, sondern auch soziale Ungleichheiten und historisch bedingte Ungerechtigkeiten verstärkt – auch in Lateinamerika. Laut einer Studie der Vereinten Nationen stehen die lateinamerikanischen Länder vor einer schweren sozialen und wirtschaftlichen Krise, die noch mehr Menschen in Armut oder gar extreme Armut stürzen wird. Ohnehin schon hoch gefährdete Gruppen wie Kinder, Jugendliche, Frauen, Angehörige der LGBTIQ+Community, Kleinbauernfamilien, indigen- und afrostämmige Gruppen, Migranten*innen, Menschen mit Behinderung und/oder die im informellen Sektor tätig sind, sind laut der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (span. CEPAL) sbesonders von der Krise betroffen.

In Kolumbien haben die Menschen in mehreren Städten während des Lockdowns rote Tücher in ihre Fenster gehängt, um zu zeigen, dass sie nichts mehr zu essen hatten. Laut der letzten großen Haushaltbefragung lebt fast die Hälfte der kolumbianischen Bevölkerung von Tätigkeiten im informellen Sektor. Die strengen Quarantänemaßnahmen haben das Überleben dieser Familien akut gefährdet. Sie hatten kein Geld mehr, um Lebensmittel zu kaufen, geschweige denn um die Miete etc. zu bezahlen.

»Viele Menschen leiden, sie hängen rote Tücher in ihre Fenster. Sie haben Hunger, sind auf der Straße und stecken sich leicht mit dem Virus an.« Luciana (Name geändert), Kolumbien, Befragung von Miradas y Voces – Desde la niñez y la juventud en tiempos de Covid-19

Kinder, Jugendliche und Gewalt

Zahlreiche nationale und internationale Organisationen haben bereits darauf hingewiesen, dass die Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der Pandemie zunimmt. Angaben der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (span. CIDH) zufolge erleben sechs von zehn Kindern in Lateinamerika in ihrer Erziehung Gewalt – körperlich oder psychisch. Diese Situation hat sich in der Pandemie mit den Quarantänemaßnahmen noch verschärft. Länder wie Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Mexiko, Paraguay und Peru melden einen Anstieg innerfamiliärer Gewalt. Aber Kinder und Jugendliche sind nicht nur Zuhause in ihren Familien vermehrt Gewalt ausgesetzt, sondern auch im außerfamiliären Umfeld, denn auch urbane Gewalt und bewaffnete Konflikte nehmen zu.

Kolumbien: Zwangsrekrutierungen und Massaker

Viele Konflikte in Kolumbien sind im Verlauf dieses Jahres neu eskaliert. Bewaffnete Gruppen haben vermehrt Kinder und Jugendliche als Kämpfer*innen rekrutiert oder ermordet. »Bewaffnete Gruppen haben im ersten Halbjahr 2020 fünfmal mehr Mädchen und Jungen rekrutiert als im selben Zeitraum des Vorjahres. Dieser besorgniserregende Trend hat auch mit der Pandemie zu tun: Schulen und andere Schutzräume für Kinder wurden geschlossen, sodass bewaffnete Gruppen leicht an sie herankamen«, meldet Save the Children. »In Regionen, die stark vom bewaffneten Konflikt betroffen sind, sind Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche von höchster Dringlichkeit. Dasselbe gilt für die Bekämpfung und Prävention der Gewalt, die Kolumbien während Jahrzehnten geprägt hat.«

Brasilien: Rassismus und Pandemie

Guilherme, João Pedro, Iago und João Vitor sind nur vier von zahlreichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die während der Pandemie von staatlichen Kräften ermordet worden sind. Die Polizeigewalt und die entsprechenden Opferzahlen sind vor allem in den Randvierteln großer Städte stark gestiegen. 80 Prozent der Opfer von Tötungsdelikten in Brasilien sind schwarz.

Soziale Bewegungen haben mit Protesten darauf aufmerksam gemacht, dass Schwarze im Lockdown stärker gefährdet sind: Sie sind den Gefahren von Covid-19, dem strukturellen Rassismus und den allgemeinen sozialen Ungleichgewichten ausgesetzt. »Schwarze Frauen und Männer sind von der Corona-Pandemie ganz besonders betroffen: Sie sind arm, haben keine oder nur eine informelle Arbeit, leben in Randvierteln und Favelas ohne sanitäre Einrichtungen, haben häufig gar kein Dach über dem Kopf.« (A questão racial e o novo coronavirus no Brasil)

Stimmen in der Pandemie

Andrea, 23 Jahre, Kolumbien
»Der Lockdown hat uns in eine schwierige Situation gebracht.«

Ich stehe kurz vor meinem Studienabschluss als Sozialarbeiterin und arbeite in einem Kollektiv, das Obdachlose unterstützt. Ich lebe im Bezirk Bello, in Kolumbien. Der Beginn der Pandemie war eindrücklich. Alles schien unwirklich. Aber mit der Zeit habe ich gelernt, damit umzugehen. Ich habe Freunde, die Angehörige verloren haben wegen Covid-19. Ich hatte das Glück, in dieser Zeit alles von Zuhause aus machen zu können. Ich hatte Onlineunterricht, ich habe meine Mutter bei der Betreuung meiner zweijährigen Nichte unterstützt und im Homeoffice gearbeitet.

Meine Mutter hingegen war von der Pandemie stark betroffen. Sie arbeitete früher in einem Restaurant. Sie gehört zur Risikogruppe und hat ihre Arbeit nicht wiederaufgenommen. Wir haben finanzielle Probleme. Nur meine Schwester und eine Tante unterstützen uns, selten auch mal mein Vater. Während des Lockdowns hatten wir große Mühe, Strom, Wasser und den Internetanschluss zu bezahlen. Ich mache mir Sorgen um die Zukunft. Ich weiß nicht, ob ich einen Job finden werde und die Formalitäten für die Ausstellung meines Berufsdiploms bezahlen kann.

Der Lockdown hat viele Probleme ans Licht gebracht, vor denen wir als Gesellschaft bisher die Augen verschlossen hatten, z.B. Frauenmorde und viele andere Menschenrechtsverletzungen. Kinder aus armen Familien waren sehr stark betroffen von den Quarantänemaßnahmen, denn für viele von ihnen war das Schulmittagessen die einzige Mahlzeit am Tag und die Schule der einzige Ort, wo sie spielen konnten. Die Behörden haben nicht genug unternommen. Auf dem Papier sieht vieles oft wunderbar aus, aber wenn es um die Umsetzung geht, geht alles sehr langsam.

Bei uns im Bezirk Bello hat es mehr Gewalt gegeben, Konflikte zwischen den Quartieren. Damit das Leben hier besser wird, müssten die Behörden Kindern und Jugendlichen eine Stimme geben, mehr auf die Familien hören und sie mit einbeziehen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Kinder, Jugendliche und Familien sind völlig sich selbst überlassen.

Gendergewalt

Social Distancing und Quarantäne bzw. Ausgangssperren haben zwar das Risiko einer Ansteckung mit dem Coronavirus verringert, viele Mädchen und Frauen dafür aber vermehrt physischer, sexueller und psychischer Gewalt ausgesetzt. Zahlreiche Anlaufstellen, Schutznetzwerke und Instanzen, bei denen Fälle von sexuellem Missbrauch und von Gewalt angezeigt werden können, mussten ihren Betrieb während der Pandemie stark einschränken, was es für betroffene Mädchen und Frauen noch schwieriger machte, Hilfe und Unterstützung zu bekommen. Auch die Gefahr, Opfer von Zwangsehen und sexueller Ausbeutung zu werden, war während des Lockdowns deutlich erhöht.

Amnesty International schreibt in diesem Zusammenhang: »Die Covid-19-Pandemie entbindet die Staaten und Regierungen nicht von ihrer Pflicht, die Gendergewalt, die Tausende von Frauen und Mädchen, auch Transfrauen und intersexuelle Personen, erleben, zu bekämpfen.« Viele Organisationen in Lateinamerika haben den Anstieg von Gewalt und Tötungsdelikten an Frauen angeprangert und fordern Maßnahmen, die den Zyklus von Aggression, Diskriminierung und Marginalisierung durchbrechen.

Auch Angehörige der LGBTQI+Community haben unter der Quarantäne und den damit verbundenen erhöhten Spannungen in ihren Familien gelitten. Oft werden sie von ihren Angehörigen in ihrer sexuellen Identität nicht respektiert und sind ganz besonders oft Opfer von Gewalt und Missbrauch. Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte CIDH weist darauf hin, dass LGBTQI+Kinder in ihren Familien und auch in ihrer Gemeinde oft Zurückweisung erfahren und damit erhöhten Risiken ausgesetzt sind.

  • Nicaragua - Januar bis September 2020: 61 Frauenmorde (Quelle: Católicas por el derecho a decidir de Nicaragua)
  • Kolumbien - Januar bis August 2020: 359 Frauenmorde (Quelle: Observatorio Feminicidios Colombia)
  • El Salvador - Januar bis August 2020: 84 Frauenmorde (Quelle: Observatorio de Violencia contra las Mujeres)
  • Brasilien – Januar bis Juli 2020: 648 Frauenmorde (Quelle: Fórum Brasileiro de Segurança Pública)

Stimmen in der Pandemie

Carmen (Name geändert), 13 Jahre, Nicaragua
»Morde an Mädchen und Frauen machen mir Sorgen.«

Ich ging auch während der Pandemie regelmäßig in die Schule. Meine Noten waren gut, und ich wollte nicht, dass ich danach viel nachholen musste. Ich bin 13 Jahre alt und gehe in die 2. Klasse der Sekundarstufe. An meiner Schule gab es Hygienemaßnahmen wie Händewaschen, Mund-Nasen-Schutz für alle und überall Desinfektionsmittel für die Hände. Aus dem Haus ging ich nur für die Schule. Ich gehe gerne zur Schule, weil ich da viel lerne und meine Freundinnen treffe. Ich möchte einmal Mathematik studieren und dann Lehrerin werden.

Ich glaube, Kinder waren von der Pandemie stark betroffen. Viele konnten nicht in die Schule. Vor allem die älteren Kinder gehen oft in eine Schule, die weiter von ihrem Wohnort entfernt ist. Siekonnten während des Lockdowns nicht zum Unterricht, weil sie sich auf der Fahrt zur Schule leicht anstecken konnten. Wenn die Leute krank waren, wollten sie nicht zum Arzt oder ins Krankenhaus zu gehen, weil sie Angst hatten, sich dort mit Covid-19 anzustecken oder nicht richtig versorgt zu werden.

Ich finde, die Behörden haben nicht genügend Schutzmaßnahmen getroffen für Kinder. An vielen Schulen wird z.B. nicht richtig auf die Präventionsmaßnahmen geachtet.

Und auch die Polizei tut nicht genug, um die Menschen vor Raub oder Diebstahl zu schützen. Dass es immer mehr Gewalt gibt, macht mir Sorgen. Die Morde an Kindern und Frauen finde ich schlimm. Ich habe Cousinen, und ich habe Angst, dass mir etwas passiert. Die Familien sollten dafür sorgen, dass die Kinder sicher sind auf ihrem Schulweg, und dass sie einsame oder abgelegene Orte meiden.

Ich lebe zusammen mit meiner Mutter und meinem Bruder in einem kleinen Dorf in Nicaragua. Mir ging es eigentlich gut in den Wochen des Lockdowns, aber ich war auch traurig und ein bisschen niedergeschlagen, weil ich nicht aus dem Haus durfte und meinen Papa nicht sehen konnte. Man konnte nirgendwo hin… Wir haben uns mit den Alimentszahlungen meines Papas über Wasser gehalten, aber die reichen nicht aus. Meine Mutter ist oft traurig, sie macht sich Sorgen. Manchmal geht sie zu meinem Onkel und wäscht und bügelt seine Wäsche. Mit dem Geld, das er ihr gibt, kann sie dann etwas Essen kaufen.

Folgen für die Bildung

In ganz Lateinamerika und in der Karibik wurden aufgrund der Pandemie die Schulen geschlossen, Millionen von Kindern und Jugendlichen hatten keinen Unterricht mehr. Die Schulschließungen waren eine der wichtigsten Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung des Virus. Am stärksten getroffen haben sie die ärmsten Kinder und Jugendlichen.

Laut der UNO waren nur in wenigen Ländern die Bedingungen für Fernunterricht gegeben. Zugang zu Technologie ist noch immer ein Privileg. Die Internationale Arbeitsorganisation (engl. ILO) bestätigt denn auch, dass für Kinder aus armen Familien Onlineunterricht nur sehr schwer möglich war. Die Familien haben kein Geld, um sich einen Internetanschluss, ein Mobiltelefon oder einen Computer für Zuhause zu leisten. Eltern sind nicht in der Lage, ihre Kinder im Unterricht über Lernplattformen zu begleiten, oft sind die Wohnverhältnisse extrem eng und es fehlt an gutem Material für den Onlineunterricht.

Noch prekärer war die Bildungssituation für Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung.

»Wir haben zu Hause kein Internet und keinen Computer, nur unsere Nachbarin. Deshalb musste ich die Aufgaben abschreiben und auf einem Blatt machen, ohne Internet.« Luís (Name geändert), 11 Jahre, Brasilien, bei einer Befragung durch das Programa Cono Sur von terre des hommes Deutschland

Die Schließung der Schulen und fehlende Kinderschutzpolitiken haben sich für die Kinder und Jugendlichen nicht nur bildungsmäßig ausgewirkt, denn viele sind auch auf das kostenlose Schulfrühstück oder –mittagessen angewiesen. Außerdem: »Wenn die Schulen geschlossen sind, werden mehr Jugendliche in eine Ehe gezwungen, bewaffnete Gruppen rekrutieren mehr Kinder und Fälle von sexueller Ausbeutung von Mädchen und jungen Frauen sowie Kinderarbeit nehmen zu«, schreibt die UNESCO. Im Kontext der Pandemie forderte die UNESCO die Länder dazu auf, Vor- und Nachteile bzw. die Risiken von Schulschließungen genau abzuwägen, entsprechende Schutzmechanismen sicherzustellen und bei der Entscheidungsfindung auch Aspekte der Gendergleichheit miteinzubeziehen.

Nicaragua war das einzige Land in der Region, das die Schulen während der Pandemie nicht geschlossen hat (UNESCO*). *Stand Oktober 2020

»Wir können nicht aus dem Haus, nicht einmal auf den Spielplatz oder einfach nach draußen zum Spielen. Gar nichts. Dabei möchten wir doch in die Schule und unsere Klassenkameraden sehen… Wir lernen nicht so gut wie sonst, es ist nicht dasselbe. Ich z.B. muss zu meiner Tante, weil wir zu Hause keinen Computer haben.« Ana (Name geändert), 6 Jahre, El Salvador, in der Befragung Percepción ante la Pandemia de Coronavirus

Mädchen im Nachteil

Die UNESCO meldet, dass aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie mehr als 11 Millionen Mädchen die Schule abbrechen könnten. Krisen dieser Art führen häufig dazu, dass Mädchen und junge Frauen arbeiten müssen und keine Zeit mehr haben für die Schule. Mädchen haben auch weniger Zugang zum Internet, auch in Regionen, in denen das Netz eigentlich gut ist. Ihre Bildungschancen sind damit stark verringert, das Risiko, dass sie aus der Schule aussteigen, ist groß.

Eine weltweite Umfrage von Save the Children hat gezeigt, dass fast zwei Drittel der befragten Mädchen seit der Pandemie mehr Hausarbeit leisten müssen. Über die Hälfte (mehr als doppelt so viele wie bei den Jungen) gab an, dass sie mehr Zeit damit verbrachten, jüngere Geschwister zu betreuen, und dass die Pandemie ihnen das Lernen erschwerte.

In Kolumbien haben 67 Prozent der Kinder und Jugendlichen an öffentlichen Schulen keinen Internetanschluss oder keinen Computer, um dem Onlineunterricht folgen zu können. In ländlichen Gebieten haben sogar nur 9 Prozent Zugang zu einem Computer (Academia Colombiana de Ciencias Exactas, Físicas y Naturales).

Zukunft? Was für eine Zukunft?

Die Pandemie hat gerade in armen Ländern und dort gerade für Kinder und Jugendliche sehr starke negative Auswirkungen. Weltweit hatten 13 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 18 und 29 Jahren im Lockdown keinen Zugang mehr zu Bildung. Eine von sechs Personen hat in dieser Zeit ihren Job verloren, besonders viele waren es in der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen. Laut Einschätzungen der ILO wird die Wirtschaftskrise nach der Pandemie es für junge Menschen noch schwieriger machen, den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu schaffen. Die ILO erinnert die Länder an die Dringlichkeit einer auf diese Generation ausgerichteten Beschäftigungs-, Ausbildungs- und Sozialschutzpolitik.

Stimmen in der Pandemie

Café, 18 Jahre, Brasilien
»Die Schule war ein Problem.«

Ich lebe in Limeira, im Bundesstaat Sao Paulo, zusammen mit meinen zwei älteren Brüdern und der Verlobten eines der beiden. In meiner Freizeit spiele ich Fußball, fahre Rad oder sehe mir Filme an. Ich male und zeichne auch gern. Während des Lockdowns habe ich mir aus einer kaputten Tür einen Tisch gebastelt, damit ich besser zeichnen konnte.

Ich habe sehr aufgepasst während der Pandemie, bin nur sehr selten aus dem Haus, und wenn, dann nur um eine Runde mit dem Fahrrad zu drehen. Es war einfach schön, den Wind im Gesicht zu spüren. Wenn man so lange immer zuhause sitzt, wird man traurig und wälzt nur düstere Gedanken.

Ich bin im letzten Schuljahr und möchte Kunst und Geographie studieren. Ich habe Freunde in der Schule, wir sind eine kleine verschworene Truppe. Manchmal gibt es Bullying. Dann versuchen die Lehrer, mit den Schülern*innen, die andere belästigen, zu reden, und wenn nötig, werden die ausgeschlossen, die sich nicht an die Regeln halten.

Ich habe während der Pandemie versucht, dem Onlineunterricht zu folgen. Aber mein Handy ist zu alt, und es ging nicht. Gedrucktes Unterrichtsmaterial gab es nicht. Wenn du also kein Internet oder kein gutes Handy hattest, konntest du nichts machen. Und bei mir kam noch ein anderes Problem hinzu: Ich kann mich nur schlecht konzentrieren und brauche Hilfe beim Lernen. Ich finde, die Schulen müssen noch geschlossen bleiben, aber man müsste es so einrichten, dass man auch Hausaufgaben und Arbeit auf Papier abgeben kann.

Dass wir nicht in die Schule können ist schwer, aber ich glaube, am Schlimmsten ist, dass die Kinder nicht raus können. Der Lockdown hat das Leben der Familien verändert. Ich habe z.B. gehört, dass es viel mehr Gewalt gegen Frauen gibt jetzt.

Aktuell mache ich ab und zu Gelegenheitsjobs. Ich helfe z.B. Bauschutt wegzuräumen oder verteile Zeitungen. Hier in Limeira haben die Jugendlichen kaum Chancen auf eine Arbeit. Die Chefs verlangen immer Erfahrung, aber die haben wir jungen Leute nicht.

Meine Brüder waren in den letzten Monaten arbeitslos. Wir haben Nothilfe [vom Staat] bekommen und Lebensmittelpakete. Es war schwierig, die Rechnungen zu bezahlen. Jetzt haben meine Brüder zum Glück wieder Arbeit. Ich möchte auch arbeiten, wenigstens in einem Teilzeitjob, damit ich meine Familie unterstützen kann.

Aktion

Die Arbeit von sozialen Organisationen hat in der Pandemie noch an Bedeutung gewonnen. Sie haben Netzwerke geschaffen und koordiniert, Nothilfe geleistet und die Nachlässigkeit von Regierungen, Behörden und Autoritäten angesichts von steigender Gewalt, mehr Hunger und sich verschärfenden Ungleichheiten angeprangert.

In nachfolgenden kurzen Texten der Organisationen des Regionalprojekts Interpaz berichten sie über Erfahrungen, Erkenntnisse, Erfolge und Schwierigkeiten in ihrem Einsatz zugunsten der Rechte von Kindern und Jugendlichen auch in Zeiten der Pandemie.

El Salvador: Empowerment für benachteiligte Gruppen

Von: Claudia Anay García de Cartagena
Projektkoordination
Museo de la Palabra y la Imagen
[@museodelapalabraylaimagen]

El Salvador hatte bei Ausbruch der Pandemie eine neue Regierung, die erst neun Monate im Amt war. Sie erklärte den Ausnahmezustand, jedoch ohne klare Regelungen. Die Grenzen sowie der öffentliche Raum wurden geschlossen, eine strikte Ausgangssperre verhängt, Reisende in Quarantänezentren gesteckt etc. Was zunächst kein schlechter Plan zur Eindämmung der Pandemie zu sein schien, führte schnell zu großer Unsicherheit, zu Menschenrechtsverletzungen und Konflikten auch zwischen den verschiedenen Staatsgewalten. Hinzu kamen Proteste von sozialen Organisationen, die beklagten, dass im Namen der Volksgesundheit, immer mehr Menschenrechte immer stärker verletzt wurden.

Auch zwei Teammitglieder des Museo de la Palabra y la Imagen (MUPI) mussten, nachdem sie an einem regionalen Planungstreffen von Interpaz in Sao Paulo, Brasilien, teilgenommen hatten, in ein Quarantänezentrum. Schon bei der Landung am Flughafen wurden ihre Pässe eingezogen, sie wurden in einen Aufnahmeraum und anschließend, nach stundenlangem Warten, in ein kleines Zimmer in einem Fitnessstudio namens INJUVE Zacamil gebracht. In einem anderen Fall, waren in notdürftig eingerichteten improvisierten Räumen am Rande eines Basketballplatzes mehr als 50 Personen, darunter auch Kinder und alte Menschen, isoliert worden. Nach Protesten und Berichten in den Medien wurden die Menschen an einen anderen Ort gebracht, an dem sie ohne Begründung und ohne zu wissen, ob sie sich evtl. angesteckt hatten, für 42 Tage festgehalten. Das Eingeschlossensein hat Spuren hinterlassen, auf emotionaler und körperlicher Ebene, und viele Betroffene haben noch immer mit den Folgen zu kämpfen.

Angesichts dieser Vorfälle hat das MUPI seine Aktivitäten für zwei Monate (März und April) eingestellt und die Arbeit im Juni online wiederaufgenommen. Es hat eine Kampagne unter dem Titel »De la pandemia a la esperanza« (Von der Pandemie zu Hoffnung) lanciert und Erlebnisberichte der Menschen aus dem Lockdown gesammelt. Daraus soll eine Ausstellung entstehen. Das Erzieher*innenteam hat einen YouTube-Kanal (Escuelas de Paz MUPI) eingerichtet und führt dort die Empowermentprozesse mit Kindern und Jugendlichen von staatlichen Schulen in sozial benachteiligten Vierteln weiter. Kinder an öffentlichen Schulen sind von der Ausganssperre und den Schulschließungen besonders stark betroffen. Das Eingeschlossensein, der damit verbundene Stress, finanzielle Nöte und der Frust darüber, dass ihre Kinder von der neuen, digitalen Bildung ausgeschlossen bleiben, weil sie sie sich schlicht nicht leisten können, belasten die Familien und damit auch die Kinder schwer. Zugang zur für den Onlineunterricht nötigen Technologie haben nur 57 Prozent aller Schüler*innen im Land.

Aber die salvadorianische Bevölkerung kämpft sich durch die Pandemie, wie sie sich in ihrer bewegten Geschichte schon durch viele Krisen gekämpft hat. Gebeutelt zwar, aber mit viel Durchhaltevermögen und Kreativität. Die Pandemie hat uns gelehrt, dass wenn die Arbeit der zuständigen Institutionen nicht auf Menschenrechten, auf den Grundsätzen von Gleichheit und Solidarität aufbaut, Kinder, Frauen und alte Menschen immer am schwersten betroffen sein werden. Sie schaffen es meist trotzdem; zu welchem Preis – das wissen nur sie.

Kolumbien: Bildung gegen Gewalt

Von: Marian N. Torres
gemeinsam mit dem Team des Regionalprojekts Interpaz
Corporación Amiga Joven
[@AmigaJoven]

Die strengen Quarantänemaßnahmen haben die ohnehin bereits herrschende soziale und wirtschaftliche Krise in Kolumbien noch verstärkt. Wirtschaftliche und politische Interessen sowie die grassierende Korruption machten es unmöglich, eine Politik umzusetzen, die die Rechte der Bevölkerung schützt und garantiert. Staatliche Gewaltexzesse und die Militarisierung mehrerer Regionen waren die Folge. Bildung war noch weniger wichtig als sonst.

Die Corporación Amiga Joven entwickelt Bildungsprozesse für die Prävention von sexueller Gewalt und zum Aufbau einer Kultur des Friedens. Mit ihrer Arbeit zugunsten von sozial benachteiligten Gruppen ist die Organisation in der Stadt Medellín und in mehreren Bezirken des Departements Antiqua aktiv und begleitet Kinder, insbesondere Mädchen und junge Frauen. Seit drei Jahren arbeitet sie auch mit männlichen Jugendlichen. Hier liegt der Fokus vor allem auf Maskulinitäten ohne Hegemonieanspruch.

Während des Lockdowns stand das Team von Corporación Amiga Joven telefonisch mit den Zielgruppen in Kontakt und hat festgestellt, dass sich Quarantäne und Ausgangsverbot sofort und sehr unmittelbar auf die Familien auswirkten. Nach nur wenigen Tagen hatten viele Familien bereits Mühe, sich mit genügend Lebensmitteln zu versorgen und Geld für die Miete beiseite zu legen.

Formen von Gewalt

Der Lockdown machte es schwierig, Mädchen und Frauen, die Gewalt erfuhren, zu identifizieren. Auch der Zugang zu den zuständigen staatlichen Instanzen war erschwert. Corporación Amiga Joven hat hilft Frauen bei dem Aufbau von Frauennetzwerken. Ziel war es, Gewalt an Frauen und Frauenmorde zu verhindern.

In den Jugendgruppen von Corporación Amiga Joven ist es im Verlauf des Lockdowns zu drei Fällen von Gendergewalt gekommen. In der Gruppe der erwachsenen Frauen wurde vor allem von psychischer Gewalt berichtet. Diese ging nicht nur von Ehemännern oder Partnern aus, sondern nicht selten auch von älteren Kindern im Jugendalter, die in vielen Fällen schon für den finanziellen Unterhalt der Familien verantwortlich waren und ihrerseits in Protesten gegen die Ermordung von sozialen Leadern*innen die Gewalt der Polizei zu spüren bekommen hatten.

Unsichere Zeiten

Die Pandemie hat viele Menschen in eine Situation der emotionalen und finanziellen Instabilität und Unsicherheit gestürzt. Corporación Amiga Joven hat ihnen Unterstützung geboten, gleichzeitig aber auch die (Weiter)bildungsaktivitäten weitergeführt und sie so dazu animiert, die Krise auch politisch einzuordnen.

Die Umstellung auf virtuelle Arbeitsformen war eine Herausforderung. Die Gruppen mussten für die neue Art der Arbeit motiviert werden, neue didaktische Instrumente waren gefragt, die Erzieher*innen und Lehrer*innen mussten ihre Unterrichtsprozesse anpassen.

»Meine Arbeit als Lehrerin in der Schule für Genderfragen und soziopolitische Bildung brachte viele Herausforderungen mit sich, ich habe aber auch viel gelernt – persönlich und beruflich. Wir mussten kreative Lösungen finden, neue methodische Tools erarbeiten, um unsere Kursteilnehmer*innen an die neue Form des virtuellen Lernens heranzuführen und auch ohne den direkten Kontakt eine Beziehung des Vertrauens zu ihnen aufzubauen. Diese vertrauensvollen Beziehungen waren die Grundlage für die Konstruktion eines Netzwerks für emotionale, finanzielle, pädagogische und politische Unterstützung zwischen den Teilnehmerinnen, ihren Familien und der Corporación.«
Jessica Segura, Betreuerin in der Gruppe der jungen Frauen

»Die Coronakrise hat die Arbeit mit der Gruppe der jungen Männer sehr erschwert, denn wir hatten, als der Lockdown verfügt wurde, erst ein einziges Treffen gehabt. Wir haben trotzdem alles unternommen, um weitere Teilnehmer zu gewinnen, aber es war schwierig, tragfähige Beziehungen herzustellen und herauszufinden, welche Interessen die jungen Männer haben, welches Wissen und welche Talente sie mitbringen und so trotz allem Lern- und Reflexionsprozesse in Gang zu bringen.«
Sebastián Buitrago, Betreuer in der Gruppe der jungen Männer, die sich vor allem mit dem Thema Maskulinitäten ohne Hegemonieanspruch befasst.

»Ein Internetanschluss ist in Kolumbien ein Privileg. Der Mehrheit der Kinder bleibt Onlineunterricht deshalb verwehrt. Wir haben beschlossen, nicht auf virtuelle Aktivitäten umzustellen und haben die psychologische Betreuung so normal wie möglich fortgesetzt, den Kindern nicht virtuelle Aktivitäten und Aufgaben mit nach Hause gegeben und sie dabei unterstützt, ihre Rechte einzufordern. Ich muss gestehen, die Pandemie hat auch mich emotional belastet. Ich machte mir große Sorgen um die Familien. Ich musste einsehen, dass meine direkte Aktionsfähigkeit eingeschränkt war, habe aber auch gemerkt, dass man auch aus der Distanz wichtige Unterstützungsarbeit leisten kann.«
Brisbany Pino, Betreuerin Kindergruppe

Nicaragua: Formen der Kommunikation

Von: Mitarbeitern*innen Regionalprojekt Interpaz
Centro de Servicios Educativos en Salud y Medio Ambiente

Das Zentrum für Bildung, Gesundheit und Umwelt (Centro de Servicios Educativos en Salud y Medio Ambiente - CESESMA) ist in der Förderung der Kinder- und Jugendrechte in Nicaragua tätig und in ländlichen Gemeinden im Norden des Landes aktiv. Diese Gemeinden haben in den vergangenen 50 Jahren zahlreiche politische, wirtschaftliche und auch ökologische Krisen erlebt und sind nun auch von der Pandemie stark betroffen.

Auch das CESESMA hat in der Coronakrise seine Arbeit neu organisieren müssen und auf virtuelle Formen gesetzt, um den Kontakt zu den Gemeinden aufrecht zu erhalten.

Die Institution engagiert sich insbesondere für die Stärkung der Partizipation von Kindern und Jugendlichen, ihrer Organisationen und für ihre Anerkennung als Rechtssubjekte. Konkret hat sie vor allem die Verbesserung der Beziehungen in den Familien, an den Schulen und in der Community allgemein im Blick und leistet damit einen Beitrag zur Prävention von Gewalt.

Die zu Beginn der Pandemie verhängte Ausgangssperre hat auch das Team des CESESMA getroffen, doch sofort wurde nach alternativen Kommunikations- und Interventionsstrategien gesucht.

Arbeit im Gesundheitsnotstand
Sehr schnell wurden im Büro, in den Gemeinden und an den Schulen Maßnahmen für die Corona-Prävention getroffen und viele Aktivitäten nur noch virtuell durchgeführt. Informations- und Aufklärungsarbeit war wichtig: Was tun bei Covid-19-Symptomen? Wie mit dem emotionalen Stress umgehen? Wie die Gefahr von Gendergewalt und sexuellem Missbrauch reduzieren?

Krisenintervention mit jungen und erwachsenen Frauen

Auch für die individuell begleitende und unterstützende Arbeit für Frauen, die Opfer von Gender- oder sexueller Gewalt sind, wurden virtuelle Formen gefunden. Zu diesem Zweck wurden Prinzipien und Grundsätze für Schutz, Vertraulichkeit und Nichtdiskriminierung festgelegt, um den Frauen so auch während des Lockdowns einen sicheren Raum bieten und sie telefonisch oder online emotional begleiten und unterstützen zu können. Ähnliche Interventionskonzepte wurden auch für die Krisenintervention mit Kindern und Jugendlichen entwickelt.


Arbeit aus der Distanz
Wie kann trotz Ausgangssperre der Kontakt zu den Gemeinden aufrechterhalten werden? Das CESESMA hat kreative Lösungen und Instrumente gefunden, sich regelmäßig telefonisch bei den Familien, bei Lehrerinnen und Lehrern und auch bei den Kindern nach ihren finanziellen aber auch emotionalen Bedürfnissen erkundigt und dann entsprechende Aktionen und Maßnahmen eingeleitet.

Übereinkunft für Dialog, Respekt, Schutz und Gendergleichheit
Mit der »Übereinkünft für Dialog, Respekt, Schutz und Gleichberechtigung der Geschlechter« wurde eine gemeinsame Vision von sicheren Communities geschaffen. Gemeinsam und unter Miteinbezug aller Altersgruppen wurden Risikofaktoren, Schutzmechanismen etc. gefunden und Maßnahmen zum Schutz von Kindern, Frauen und Jugendlichen vor Gewalt festgelegt. Die Umsetzung der Maßnahmen wurde telefonisch begleitet. Besonders wichtig waren die Themen Risikofaktoren für sexuellen Missbrauch und Covid-19-Prävention. Im Verlauf der Pandemie hat das CESESMA fünf Opfer von sexuellem Missbrauch begleitet und sie im gerichtlichen Anzeigeverfahren unterstützt.

Mit Blick in die Zukunft möchte das CESESMA den Einsatz neuer Technologien in seiner pädagogischen Arbeit weiter ausbauen und weitere Gefahren und Risiken für die Zielbevölkerung in den Fokus nehmen (Naturkatastrophen, Gewalt, Gesundheitskrisen). Die methodischen Ressourcen zur Förderung einer Kultur des Friedens aus der Perspektive der Menschenrechte, des Schutzes und der Gleichberechtigung sollen auch in Zukunft permanent weiterentwickelt werden.

Brasilien: Unterstützung für Jugendliche in Randgebieten

Von: Marilia Frois und Eleilson Leite
Koordination Regionalprojekt Interpaz
Ação Educativa
[@acaoeducativa]

Seit 1994 setzt sich die Institution Ação Educativa für die Rechte der Jugend in den Bereichen Bildung und Kultur ein. Schwerpunkte sind die Förderung von Demokratie, sozialer Gerechtigkeit und sozialer sowie ökologischer Nachhaltigkeit.

Seit 2016 erlebt Brasillien eine fortschreitende Missachtung der Menschenrechte, soziale Ungleichgewichte verschärfen sich. Mit der Pandemie hat sich die Situation weiter zugespitzt. 13 Millionen Brasilianer*innen sind ohne Arbeit, 10 Millionen haben wegen Corona weniger Arbeit oder vorübergehend gar kein Einkommen.

Ação Educativa ist in städtischen Randgebieten tätig, die von der Pandemie besonders stark betroffen sind: Die Menschen haben kein Einkommen mehr, soziale Distanzregeln sind kaum einzuhalten, die medizinische Versorgung ist prekär, das Virus verbreitet sich praktisch ungebremst. Bis zum 20. Oktober 2020 verzeichnete Brasilien 5 Millionen Ansteckungen und 150.000 Tote.

Unmittelbar nach Ausbruch der Pandemie hat Ação Educativa alle Präsenzveranstaltungen eingestellt, Hygieneprotokolle eingeführt und auf Fernunterricht und virtuelle Aktivitäten umgestellt. Die Coronakrise brach zu Beginn des Jahres aus, viele Projekte waren noch neu und standen noch ganz am Anfang. Das erschwerte natürlich die Kontaktaufnahme und den Aufbau vertrauensvoller Beziehungen zu den Gruppen und Teams, und doch gelang es, praktisch alle Treffen, Kurse und Aktivitäten virtuell aufrecht zu erhalten. Gewisse Aktivitäten z.B. im Bereich des Straßenfußballs, über den wichtige Themen wie Konfliktbewältigung, Community Organization und Friedenskultur bearbeitet werden, waren jedoch nur noch sehr eingeschränkt oder gar nicht mehr möglich.

Im Rahmen des Regionalprojekts Interpaz systematisiert Ação Educativa die Methode des Straßenfußballs und die damit gesammelten Erfahrungen. Fünf neue Gruppen/Kollektive waren geplant, pandemiebedingt konnten jedoch nur zwei auch tatsächlich gegründet werden. Diese konnten bereits institutionelle Bündnisse schließen und haben im Fernunterricht mit den Theoriekursen begonnen.

Die Institution leistet nicht nur konkrete Arbeit mit Jugendlichen, sondern engagiert sich auch auf politischer Ebene. Dort setzte sie sich für Corona-Nothilfe ein und verurteilte die staatliche Austeritätspolitik, von der arme Bevölkerungsgruppen natürlich ganz besonders betroffen sind. Und das politische Lobbying von Ação Educativa hat Erfolg. So hat die Organisation zur Einführung von Überbrückungshilfen und zu einem Gesetz zur Unterstützung von Kulturschaffenden beigetragen, und in Sao Paulo ist sie Teil des Programms Cidade Solidária, das humanitäre Hilfe leistet. Gemeinsam mit anderen Organisationen und Kollektiven und mit finanzieller Unterstützung verschiedener Institutionen organisierte Ação Educativa in der Pandemie auch Lebensmittelpakete oder Lebensmittelkarten für Hunderte von bedürftigen Familien.

Neben der psychologischen Betreuung und Unterstützung (Einzel- und Gruppentherapien) für Jugendliche des Instituts Amma Psique e Negritude hat Ação Educativa mittels einer digitalen Lernplattform Kunstworkshops für mehr als 800 Jugendliche in Heimen und anderen Institutionen angeboten. Elf Kursleiter*innen hatten Dank der Workshops Arbeit.


Und nach der Pandemie? Kinder und Jugendliche blicken in die Zukunft

»Ich sehe bei meinen Schülern*innen, dass viele traurige und schmerzhafte Momente erlebt haben, wegen der großen Unsicherheit oder weil z.B. Verwandte oder Angehörige an Covid-19 verstorben sind, und ich denke, dass das auf psychischer Ebene sicher noch länger Spuren hinterlässt. Leider beschränken sich alle Maßnahmen und Planungen bisher nur auf den akademischen Bereich. Der ist natürlich wichtig, aber wenn die Menschen einen Krieg, ein Erdbeben oder eben eine Pandemie erlebt haben und sie keine emotionale oder psychologische Unterstützung bekommen, dann wird sich das später in zunehmender Gewalt auswirken.« Manuel de Jesús, Lehrer, El Salvador

»Es gab keinen Präsenzunterricht mehr, und viele Schüler*innen haben die Schule etwas aus dem Blick verloren, weil sie kein Internet haben zu Hause und die virtuellen Angebote nicht nutzen konnten. Und auch die Arbeitslosigkeit hat während der Pandemie noch mehr zugenommen, viele haben ihren Job verloren und können ihre Familie nicht mehr ernähren.« Murilo, 17 Jahre, Brasilien

»Ich glaube, Kinder und Jugendliche werden nach der Pandemie sozialen Kontakten wieder mehr Gewicht geben. Es war sehr schwierig für sie, ihre Freunde nicht mit einer Umarmung begrüßen zu dürfen. Ich hoffe, dass die neue Realität nach der Pandemie wieder kinderfreundlicher wird. Und ich hoffe, dass sich Familien, Behörden und Organisationen für eine inklusive, resilienzfördernde Bildung einsetzen, in der auch emotionale und soziale Aspekte Platz haben, und die den unterschiedlichen Bedürfnissen und Lebensrealitäten der am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen Rechnung trägt.« Mercedes, Erzieherin in einer Stiftung, Nicaragua

»Zugang zu Bildung zu bekommen, ist noch schwieriger geworden, weil viele nicht am Onlineunterricht teilnehmen konnten und nun große Lücken haben. Und in dieser ganzen Zeit, in der sie nicht zur Schule gehen konnten, kamen viele wohl auch auf dumme Gedanken… Das Eingeschlossensein zu Hause hat auch zu viel Aggression zwischen Paaren, zwischen Eltern und Kindern etc. geführt, und das belastete viele Kinder schwer.« Andressa, 19 Jahre, Brasilien

»Es kommt immer drauf an, ob du aus einer armen Familie stammst. Und vieles hängt auch von den Wahlen ab, ob es eine öffentliche Politik für die weniger begünstigte Bevölkerung geben wird, ob die Arbeitsmarktsituation sich entspannt und die Einkommenslage sich verbessert. Ohne unterstützende Maßnahmen wird es auch in Zukunft Gruppen geben, die sozial, bildungsmäßig und kulturell im Abseits stehen. Aber wenn es genügend Arbeit gibt, wird sich die Lebensqualität der Familien verbessern.« Guilherme, 21, Straßenfußball-Mediator, Brasilien

»Ich glaube, dass Kinder und Jugendliche das Leben und die Familie jetzt wieder mehr schätzen.« Lu, 12 Jahre, Brasilien

»Ich glaube, die Realität von uns Jugendlichen könnte sich ändern, wenn die Familien Vertrauen schaffen und mehr miteinander reden würden, auch über Gewalt. Die Menschen müssen wissen, dass sie ein Recht auf ein Leben ohne Gewalt haben und lernen müssen, miteinander zu kommunizieren. Während der Pandemie hat es viel Gewalt gegeben, aber vielleicht können wir lernen, friedlicher zusammen zu leben.« Rosa, 16 Jahre, Nicaragua

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