»Die Kinder von heute werden eines Tages alles wieder aufbauen.«
Interview mit Psychologin Nadiia Lokot, Libereco

Mit jedem Tag des Krieges in der Ukraine steigen auch die psychischen Belastungen für Kinder und Familien. Granatenbeschuss und Luftangriffe, Familientrennungen und Vertreibungen sind für viele Teil des Lebens geworden. Beinahe jedes zweite Kind zeigt Anzeichen psychischer Verletzungen und Traumata.
Die Terre des Hommes-Partnerorganisation »Libereco – Partnership for Human Rights« leistet Traumahilfe und psychosoziale Unterstützung für Kinder, Jugendliche und Familien in verschiedenen Regionen des Landes. Im Interview beschreibt Psychologin und Projektkoordinatorin Nadiia Lokot den Ansatz der Organisation und erklärt, wie er den vielen betroffenen Kindern und Jugendlichen helfen kann.
Nadiia, auch nach Jahren des Krieges: Ihr leistet psychologische Unterstützung in einem anhaltenden Ausnahmezustand. Wo setzt ihr an, wie sieht eure Arbeit aus?
In erster Linie versuchen wir, Kindern, Jugendlichen und Familien zu helfen, insbesondere jenen, die direkt vom Krieg betroffen sind und ihre Heimat verlassen mussten. Außerdem Betreuer*innen und Pädagog*innen, die mit Kindern arbeiten.
Wir bieten direkte psychologische und psychosoziale Unterstützung an, aber der Schwerpunkt liegt für uns auf der Vermittlung einfacher, effektiver Methoden zur Selbsthilfe und zur Steigerung der Resilienz. Wir bringen den Menschen bei, mit der Situation, in der sie sich befinden, umzugehen. Und wir schulen sie darin, die Methoden weiterzugeben, sodass zum Beispiel Eltern ihren Kindern auch in Zukunft helfen können.
Wie sieht die psychologische Unterstützung insbesondere für Kinder aus?
Wenn wir über die Arbeit mit Kindern sprechen, geht es oft nicht nur um Einzel-, sondern um Gruppenarbeit oder auch mobile Ad-Hoc-Hilfe – zum Beispiel durch traumainformiertes Spielen oder kunsttherapeutische Kurse. Dafür haben wir mobile Helfergruppen, die direkt in die Städte und Dörfer fahren, in Charkiw, Donezk und Dnipro. Wir führen auch Winter- und Sommerferienlager durch.
Ein Traumahilfe-Event beginnt meist damit, dass wir eine Ankündigung in den sozialen Medien posten, manchmal mit einer lokalen, befreundeten Organisation. Dann prüfen wir die Anträge, priorisieren zum Beispiel Binnenvertriebene in der Umgebung oder Kinder, die von ihren Eltern getrennt wurden. Hinterher versuchen wir, mit den Berzugspersonen vor Ort in Kontakt zu bleiben. Sie können zum Beispiel an Online-Kursen teilnehmen.
Warum hilft diese Form der mobilen Therapie? Vor allem in den gefährdeten Regionen nahe der Front?
Menschen, die mit Kindern nahe der Front bleiben, tun dies oft, weil sie keine andere Wahl haben. Manche haben körperliche Beeinträchtigungen. Manchmal sind es einfach große Familien, die keine anderen Einkommensmöglichkeiten haben. Abgesehen von sporadischer humanitärer Hilfe, die aufgrund der kaputten Straßen und der hohen Risiken nur selten kommt, erhalten die Menschen keine weitere Form der Unterstützung.
Mir ist dazu ein Vergleich von einem unserer mobilen Helfer im Gedächtis geblieben: Wenn sie mit Kindern ein Spiel oder ein Event durchführen, dann tun sie das, damit diese Kinder diese schöne Erinnerung bewahren und später ihren »Patronus« anrufen können.
Ihr kennt Harry Potter? Ein Patronus ist eine Art Schutzgeist, der beschworen werden kann, wenn man sich an etwas Gutes erinnert, trotz des Schlechten um einen herum. Wenn ein Kind also diese Erinnerung hat, einen Moment, in dem es einfach ein Kind sein konnte, ohne Probleme zu lösen, ohne Angst vor allem zu haben, in dem es einfach spielen konnte, dann ist das unschätzbar wertvoll.

Nadiia Lokot arbeitet als Psychologin und Projektkoordinatorin für die Terre des Hommes-Partnerorganisation Libereco, die psychosoziale Unterstützungsprojekte für Kinder, Jugendliche und Familien in der Ukraine durchführt. Seit 2019 arbeitet Nadia überwiegend mit Opfern von Gewalt.
»Im Moment fällt es mir wegen des Krieges sehr schwer, einen klaren Beruf zu nennen. Aber ich bin Psychologin, Traumatherapeutin und habe mich unter anderem auf Krisensituationen spezialisiert.«
Wie würdest du in diesem Zusammenhang den Ansatz eurer Traumatherapie erklären?
Trauma an sich lässt sich nur sehr schwer definieren. Im Grunde ist es der Abdruck eines überwältigenden Erlebnisses, bei dem jemand keine Unterstützung hatte. Ein Trauma ist wie ein Splitter oder ein Stück Glas, das nach einem Ereignis zurückbleibt, das eigentlich schon vorbei ist. Es ist etwas Schmerzhaftes, das dich daran hindert, ein erfülltes Leben hier und jetzt zu führen, weil dich damals etwas verletzt hat.
Gerade bei einem Kriegstrauma geht es darum, dass mir die Kontrolle genommen wurde. Wir helfen Menschen, die entstehenden Situationen zu überwinden, indem wir somatische Praktiken und einen körperzentrierten Ansatz anwenden. Das kann ein langer Prozess sein. Wir unterstützen Personen dabei, die Kontrolle wiederzuerlangen, den eigenen Körper zu verstehen. Das Ganze basiert auf einem genauen Verständnis des Nervensystems.
Oft verwenden wir auch traumainformiertes Training und Spiel. Die Unterstützung besonders bei Kindern kann aus einfachen, abwechslungsreichen Aktivitäten bestehen – beginnend mit dem Malen, gefolgt von einer aktiveren Übung. Irgendwann wechseln sich die Aktivitäten ab. Gerade Kinder, die Besatzung oder Beschuss erlebt haben, befinden sich manchmal in einer Art emotionalen »Versteinerung«. Unser Ansatz hilft, sie sanft aus ihr herauszuführen.
Ist dir ein spezieller Fall besonders im Gedächtnis geblieben?
Ich habe gerade so viele davon. Ich erinnere mich zum Beispiel an ein Mädchen aus Mariupol. Heute kann man dort nicht mehr leben. Und sie ist nach Dnipro gezogen, wo es auch sehr gefährlich ist.
Sie hat an einem der Feriencamps teilgenommen, die wir im Rahmen eines früheren Projekts durchführten. Ihr seelischer Zustand war sehr traurig. Anfangs interessierte sie sich auch nicht wirklich für das Camp. Ich glaube, ihre Mutter hatte es vorgeschlagen. Sie stimmte zu, ohne großes Interesse.
Was sie zuvor erlebt hatte, ist unvorstellbar. Sie hatte – und ich weiß, das ist schrecklich zu sagen – sichtlich den Lebenswillen verloren. Aber nach ein paar Tagen im Camp lächelte sie immerhin wieder, lachte mit anderen Kindern und fand sozusagen wieder ins Leben zurück. Sie hat Freundschaften geschlossen, kleine Wanderungen in der Nähe des Camps unternommen.
Vielleicht ist das jetzt keine große, fantastische Geschichte, aber in solchen Momenten sehe ich immer wieder, dass es Hoffnung gibt. Eigentlich sollte es das gar nicht geben, dass Kinder erst ins Leben zurückfinden müssen. Kinder sollten Kinder sein. Ihr einziger Job ist es, zu wachsen, glücklich zu sein, Bilder zu malen, vielleicht im Laden ein Brötchen zu bekommen. Sie machen schreckliche Dinge durch, die selbst für Erwachsene schwer zu ertragen sind. Und wenn sie ins Leben zurückfinden, ist das für mich ein unglaubliches Ereignis.
Wenn wir über die Kindheit in der Ukraine als Ganzes sprechen: Gibt es etwas, das alle in der Erfahrung des Krieges verbindet?
Allgegenwärtig ist vielleicht der Verlust der Sicherheit, insbesondere für Kinder. Es ist der Verlust der Eltern, der Verlust der Wohnung, der Verlust der Stabilität. Die Erfahrung nicht zu wissen, was morgen ist, sich nicht auf die Zukunft verlassen zu können.
Jetzt könnte man einwenden, dass kein Kind die eigene Zukunft lange vorausplant. Aber es ist ein Unterschied, ob man Angst hat, dass man morgen getötet werden könnte. Wenn wir [als Organisation, d.Red.] zum Beispiel unseren nächsten Tag planen, dann sind wir uns bewusst, dass einer von uns sterben könnte. Und das ist keine übertriebene Sorge, sondern Realität. Weil ich hier bin, in meinem Land, es herrscht Krieg, und der einzige Weg, wie ich helfen kann, ist, Unterstützung zu leisten. Aber leider kann ich keine Raketen stoppen. Und dieses ständige Gefühl der Unsicherheit und Gefahr, das uns vollständig umgibt, betrifft praktisch alle Menschen.
Es sind nun elf Jahre, seit Russland die Krim besetzte; drei Jahre, seit es die Angriffe auf die gesamte Ukraine startete. Wie reagieren vor allem Kinder auf die anhaltende Realität des Krieges?
Soweit absehbar, nimmt der Krieg leider kein Ende. Die Spannung bleibt. Diese Erwartung, dass jeden Moment alles vorbei ist und wir aufatmen werden... Es setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass das nicht passieren wird. Es wird nicht sofort Frieden geben, und niemand kann die Freude derjenigen wiederherstellen, die geliebte Menschen, ihr Zuhause oder ihre Hoffnung verloren haben. Umso wichtiger ist es, jetzt Resilienz zu entwickeln und sich zu wappnen.
Kinder leiden unter der Länge des Krieges, weil sie anfälliger für dieses andauernde Gefühl der Gefahr sind. Gleichzeitig sind sie aber flexibler gegenüber Veränderungen und können sich anpassen. Die Psyche von Kindern ist sehr flexibel. Und das ist eine unglaublich wichtige Gabe.
Wenn wir sie nicht im Stich lassen, wenn wir sie unterstützen, wenn wir ihnen Sicherheit geben, ihnen ein wenig Kindheit schenken und ihnen helfen zu verstehen, dass dies nicht für immer ist... Vielleicht werde auch ich das Ende des Krieges nicht mehr erleben, obwohl ich es mir wirklich wünsche, aber die Kinder werden auf jeden Fall leben. Sie sind die Zukunft. Die Kinder von heute werden diejenigen sein, die eines Tages alles wieder aufbauen.
Wie siehst du als Psychologin die Zukunft der Ukraine?
[Überlegt] »Wir werden alle traumatisiert.« »Wir werden alle PTBS [Posttraumatische Belastungsstörungen] haben.« Solche Aussagen mag ich überhaupt nicht. Wenn wir so reden, programmieren wir uns irgendwie dafür. Als würden wir die Arme verschränken und sagen: »Tja, wir werden alle in diesem Zustand sein.«
Ich bin zuversichtlich. Dass wir uns anpassen können, wenn wir den Kampf fortsetzen und wenn wir weitermachen, auf die bestehenden Herausforderungen zu reagieren. Ich habe Hoffnung. Und auch wenn dieser Krieg nicht schnell endet, bin ich bereit, mich an ihr weiter festzuhalten, weil ich leben will. Ich weiß, dass Kinder geboren werden. Ich möchte auch unbedingt Kinder haben. In der Ukraine.
Ja, Heilung wird Zeit brauchen, das Herausziehen der Splitter wird Zeit brauchen. Aber wenn wir weitermachen und an das glauben, was wir tun, wird es früher oder später wieder besser sein.
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Das Interview wurde auf ukrainisch geführt und anschließend ins Deutsche übertragen.