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»Unsere Partner in der Ukraine leisten Unglaubliches«

Teresa Wilmes, terre des hommes-Referentin für Deutschland und Europa, über Evakuierungen, riskante Lebensmittel-Lieferungen und beeindruckende Menschen

Uzhhorod, eine ukrainische Kleinstadt an der Grenze zur Slovakei: Hier sammeln sich Vertriebene aus den umkämpften Gebieten, hier werden auch Hilfsgüter für das kriegsgebeutelte Land gelagert, sortiert und auf den Weg gebracht. Viele Hilfsorganisationen arbeiten von Uzhhorod aus, auch Vostok SOS und das Medical Aid Committee Zakarpattya. Beide sind Partnerorganisationen von terre des hommes. Teresa Wilmes, terre des hommes-Referentin für Deutschland und Europa, war am 18. und 19. Mai vor Ort in Uzhhorod, um die laufende Projektarbeit zu begutachten und mit den Partnerorganisationen über weitere Bedarfe, Kooperationen und Unterstützungsmöglichkeiten zu sprechen.

Teresa, was hat dich bei deinem Besuch in der Ukraine am meisten beeindruckt?

Die Begegnungen mit den Menschen, die große Gefahren auf sich nehmen, um die Familien in den Kampfgebieten zu versorgen. Sie alle hatten andere Pläne und Ziele, niemand wurde freiwillig zur – beispielsweise - Logistikerin. Unsere Partner in der Ukraine leisten Unglaubliches. Trotz teils eigener persönlicher Betroffenheit geben sie anderen Trost und Hoffnung. Sie kümmern sich um die Lieferung von Lebensmitteln und Medikamenten oder setzen sich für die Evakuierung von Kindern, Frauen und Männern aus den umkämpften Gebieten ein.

Wie kann man sich die Evakuierungen vorstellen?

Unser Partner Vostok SOS fährt mit Bussen in die umkämpften Gebiete. An einem Sammelpunkt kommen die Menschen zusammen und besteigen den Bus. Einige entscheiden sich in letzter Sekunde um und wollen plötzlich doch nicht mit. Oder die Kinder wollen mit, aber die Eltern oder Großeltern wollen bleiben. Es ist schwer, die Menschen zu überzeugen, dass sie ihr Zuhause aufgeben müssen.

Sind diese Fahrten sehr gefährlich?

Ja. Es ist riskant, aber eine große Freude, wenn es gelingt. Kurz vor meiner Abreise aus der Ukraine schickte mir ein Mitarbeiter von Vostok SOS die Nachricht: »Gestern konnten wir 500 Leute aus einer bombardierten Stadt evakuieren. Danke für eure Hilfe!« Das hat mich sehr berührt.

Wo werden die Evakuierten hingebracht?

In der Zentralukraine gibt es Anlaufpunkte, wo sie erstmal versorgt werden, bevor sie weiterreisen. Unsere polnischen Partner beliefern dort zum Beispiel eine Einrichtung für Kinder mit Medikamenten.

Neben den über sechs Millionen Flüchtlingen, die das Land verlassen haben, gibt es zurzeit acht Millionen intern Vertriebene in der Ukraine. Wo leben sie? Wie werden sie versorgt?

Zum Beispiel in Uzhhorod ist die Einwohnerzahl von 117.000 Menschen auf schätzungsweise über 175.000 gestiegen. Wer sich registrieren lässt, bekommt etwas Geld vom Staat. Für die, die alles verloren haben, reicht das aber oft nicht aus. Und viele Vertriebene lassen sich nicht registrieren, zum Beispiel weil sie privat unterkommen und keine Sozialleistungen brauchen oder weil sie Angst haben, dann in die Armee eingezogen zu werden. Zu Beginn des Krieges fehlten Matratzen und Schlafplätze. Mittlerweile ist das aber nicht mehr so. Die Menschen wohnen bei Bekannten und Verwandten oder sie sind in Turnhallen, Schulen und anderen öffentlichen Räumen untergebracht. Nach drei Monaten Krieg stellt sich aber langsam die Frage: Wann kann eine Schule wieder öffnen? Und wie können all die neu angekommenen Kinder unterrichtet werden?

Die Kinder werden bisher nicht unterrichtet?

Es gibt Online-Unterricht für die, die zurzeit nicht in ihre Schule gehen können. Aber die vertriebenen Kinder und Jugendlichen haben oft keinen Computer und deshalb nützt ihnen das nicht viel. Manche nehmen per Handy teil, aber das ist natürlich nicht ideal. Und viele dieser Kinder brauchen trauma-pädagogische Face-to-Face-Angebote, damit sie ihre Kriegserfahrungen verarbeiten und stabilisiert werden können. Unsere Partnerorganisationen wollen sich jetzt verstärkt um sie kümmern.

Was brauchen die Menschen in der Ukraine zurzeit am nötigsten?

Nach wie vor sind das Lieferungen mit Dingen des täglichen Bedarfs: In der Ostukraine werden Hygieneartikel wie Windeln oder Tampons gebraucht. In den besonders umkämpften Gebieten sind es vor allem Nahrungsmittel. Wenn es geht, werden die vor Ort eingekauft. Unsere Partnerorganisationen sind aber auch froh über die Lieferung von Dosen. Denn wo es keine Infrastruktur mehr gibt, und die Häuser zerbombt sind, können Lebensmittel in Dosen relativ einfach in einem Feuer warmgemacht werden. Du wirfst die Dose ins Feuer und so erwärmst du sie.

Wie werden die Lebensmittel in die Kampfgebiete gebracht?

Da geht es vor allem um Schnelligkeit: Es wird ein zentraler Ort im Dorf gesucht, der Kleinbus oder das Auto wird ausgeladen und verschwindet sofort wieder. Das steht unter enormem Zeitdruck, denn solche Fahrten sind natürlich riskant.

Wer macht diese gefährlichen Fahrten?

Mitarbeitende unserer Partnerorganisationen oder auch Freiwillige, die helfen wollen. Es gibt zahlreiche kleine Initiativen, die sich jetzt gegründet haben. Sie erwarten keine Gegenleistung. Natürlich müssen die Helfer*innen irgendwann auch wieder arbeiten und Geld verdienen. Aber manche haben wegen des Krieges sowieso keine Arbeit und wollen etwas tun. Wir haben zum Beispiel eine Helferin kennengelernt, die eigentlich Hochzeitsplanerin war. Aber jetzt heiratet niemand. Oder eine Ärztin, die mit ihrer Familie aus Charkiw in die Westukraine geflohen ist. Jetzt wohnt sie in Uzhhorod bei Bekannten und sortiert im Lager des Medical Aid Commitees Medikamente, die an Krankenhäuser und Ärzt*innen in den umkämpften Gebieten geliefert werden. Sie sagt: »Das ist leider jetzt im Krieg alles, was ich tun kann, um die Menschen, die nicht fliehen wollten oder konnten, zu unterstützen.«

Der Krieg dauert jetzt schon drei Monate. Was gibt den Helfer*innen die Kraft weiterzumachen?

Eine der Freiwilligen hat zu mir gesagt: »Ich tue das, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass meine dreijährige Tochter in einer Diktatur aufwächst. Das will ich nicht!« Bei vielen ist es auch die eigene Geschichte, die eigene Betroffenheit, die eigene Fluchterfahrung. Ein Mitarbeiter von Vostok SOS meinte: »Wenn ich in dieser Situation nichts tun könnte, würde mich das verrückt machen.«

24.05.2022

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