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Afghanistan: »Errungenschaften sind in Gefahr«

15.05.2021 - Der Ausgang der Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung ist ungewiss. Dennoch hat die NATO begonnen, ihre Truppen abzuziehen. terre des hommes unterstützt in Afghanistan zahlreiche Organisationen, die sich für Kinder, Frauen und Menschenrechte einsetzen. Sie sind in großer Sorge. Sie fürchten, dass der Abzug der NATO-Truppen den Einfluss der Taliban stärkt. Wir sprachen darüber mit der Mitarbeiterin einer Partnerorganisation. Um sie nicht zu gefährden, wird ihr Name nicht genannt.

Welche Folgen hat der Truppenabzug in Afghanistan?

Die Menschen sind verunsichert und haben Angst. Schon jetzt nimmt die Gewalt gegen Zivilisten, Aktivist*innen und weibliche Führungskräfte zu. Die Taliban sind gegen all unsere demokratischen Werte. Um diese zu schützen brauchen wir dringend mehr Unterstützung von der EU. Es war ein Fehler, den Truppenabzug ohne Bedingungen zu beschließen. Die Konsequenzen wurden nicht ausreichend bedacht.

Im Friedensprozess ist die Verhandlungsposition der afghanischen Regierung sehr schwach. Bisher haben die Taliban keine großen Zugeständnisse gemacht. Im Moment sieht es so aus, als ob sie versuchen, Allianzen mit anderen konservativen Warlords einzugehen, um ihre Position weiter zu stärken und ihren Einfluss auszuweiten.

Die Errungenschaften, die es seit 2001 gab, sind in Gefahr – besonders auf dem Gebiet der Frauenrechte. Frauen werden in der Öffentlichkeit belästigt, und ihre gesellschaftliche Teilhabe wird eingeschränkt oder verboten. Möglicherweise werden die Taliban Grundschulbildung zulassen. Aber im Bereich Sekundar- und Hochschulbildung oder auf dem Arbeitsmarkt müssen Mädchen und Frauen mit starken Einschränkungen rechnen.

Welche Zukunft haben liberale Kräfte in Afghanistan?

Bereits jetzt ist eine Abwanderung von Fachkräften und liberalen Akteuren zu beobachten. Viele werden bedroht und erwägen, das Land zu verlassen. Wir erwarten zwar keinen Zusammenbruch der Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen. Aber wir müssen darauf vorbereitet sein, dass wichtige Personen nicht im Land bleiben können. Es gibt zu wenig Unterstützung für den Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen. Wir fürchten, dass die internationale Gemeinschaft Afghanistan erneut den Rücken zukehrt.

Was erwarten Sie von den Friedensgesprächen?

Es ist wichtig, dass die internationale Gemeinschaft, die EU und Deutschland eine größere Rolle bei den Friedensgesprächen spielen als bisher. Die Teilnahme der Zivilgesellschaft sollte ermöglicht werden. Die meisten politischen Parteien in Afghanistan haben einen militärischen Hintergrund und repräsentieren nicht die Zivilbevölkerung. Auch Frauen müssen einbezogen werden. Ein Friedensabkommen muss auch konkrete Umsetzungspläne beinhalten. Ein Waffenstillstand und dessen Überwachung stellen eine erste Grundvoraussetzung dar. Viele ausländische Regierungen unterstützen Afghanistan, aber es fehlen klare Aussagen und Haltungen zum Friedensprozess, auch von der deutschen Bunderegierung.

Wie können liberale Kräfte im Friedensprozess die Oberhand gewinnen?

Verschiedene Politiker sind in persönlichem Kontakt mit den Taliban. Aber sie sind zu spät aktiv geworden, sie haben Zeit verloren. Die jetzige Regierung und die liberalen Akteure müssen mit einer gemeinsamen Stimme in die Verhandlungen mit den Taliban gehen. Für eine gute Verhandlungsposition braucht es zwei oder drei wesentliche Punkte auf der Tagesordnung, auf die sich alle liberalen Akteure und Parteien einigen können. Grundlage der gemeinsamen Haltung sollte sein, dass sie keine Kompromisse bei den erreichten Bürgerrechten eingehen werden. Auch die Taliban haben Ängste. Ihnen fehlen die politischen Grundlagen sowie politische Erfahrung und Praxis. Sie haben erkannt, dass ausländische Hilfe notwendig ist, da das Führen einer Regierung ohne finanzielle Mittel nicht möglich ist. Sie haben erkannt, dass die Menschen keine größeren Rückschläge mehr hinnehmen werden.

Erwarten Sie, dass die Taliban bereit sind, auch mit Frauen zu reden?

Nein. Aber Frauenrechtlerinnen verhandeln seit Jahren mit Männern, die ähnliche Ansichten wie die Taliban haben. Wir sind hartnäckig und wollen, dass sie ihre Positionen ändern. Die internationale Gemeinschaft sollte die Frauen unterstützen. Wenn die Relevanz ihrer Arbeit anerkannt wird, stärkt das auch ihr Selbstvertrauen.

 Wie sehen Kinder und Jugendliche die jetzige Situation?

Wenn man mit jungen Menschen spricht, zeigen sie Frustration und Müdigkeit über die Kriegssituation. Sie wollen sich mit ihrer Ausbildung und ihrer Zukunft befassen. Für sie ist es am wichtigsten, dass die Verhandlungen zu einem dauerhaften Waffenstillstand führen. Ein Bürgerkrieg würde eine weitere Generation in Afghanistan zerstören.

Es gibt zahlreiche Minderjährige, die von den Taliban rekrutiert wurden. Oft sind diese Jungen sexuell ausgebeutet worden. Sie sind psychisch verletzt und müssen rehabilitiert und reintegriert werden. Wie sie leiden viele Menschen unter den Erlebnissen ihrer Kindheit. Sie sind traumatisiert. Das wirkt sich auch negativ auf die Entwicklung des Landes aus. Wir müssen lernen, besser damit umzugehen und brauchen Unterstützung von außen, zum Beispiel für die erwähnten minderjährigen Ex-Kombattanten.

Wovor haben Sie am meisten Angst?

Es besteht die Gefahr, dass die Taliban nach dem Abzug der NATO-Truppen versuchen werden, die Macht zu übernehmen. Wenn es ihnen nicht politisch gelingt, dann werden sie es mit Gewalt versuchen. Gleichzeitig haben andere bewaffnete Gruppen in den letzten Jahrzehnten viel an Status gewonnen, so dass auch sie nicht nachgeben werden. Dies kann zu einem hohen Maß an Gewalt führen. Ein Machtvakuum wird es wahrscheinlich auch internationalen extremistischen Gruppen leichter machen, in Afghanistan Fuß zu fassen. Jetzt braucht es diplomatischen Druck durch klare Aussagen und Zusagen. Wir wollen nicht von der internationalen Gemeinschaft abgekoppelt werden.

Stellungnahme von terre des hommes-Partnerorganisationen zum Abzug der NATO-Truppen

 

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