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»Denn die Krise in Afghanistan ist eine Krise der Kinder«

Interview zur Situation der terre des hommes-Projekte in Afghanistan und Tadschikistan

Zwei Jahrzehnte nach ihrem Sturz haben die Taliban im August 2021 die Macht in Afghanistan wieder übernommen. Fortschrittliche Kräfte und Frauenrechtler*innen müssen um ihre Sicherheit und in vielen Fällen um ihr Leben fürchten. Zur Situation im Land, über die Projektarbeit und die Aktivitäten in Afghanistan und im Nachbarland Tadschikistan sprachen wir mit Chris Hartmann, Referent Humanitäre Hilfe bei terre des hommes.

Sie haben vor einigen Wochen Tadschikistan besucht. Ist das ein neues Projektland von terre des hommes?

Ja, denn bereits seit Ende 2020 gibt es Planungen, die Arbeit in der Region auf Nachbarländer von Afghanistan auszuweiten. Ein Grund liegt darin, dass wir die relativ stabile Sicherheitslage in Tadschikistan nutzen wollen, um Austauschmöglichkeiten für unsere Partnerorganisationen in der Region zu schaffen. Hinzu kommt, dass es starke grenzübergreifende Migrationsbewegungen zwischen Afghanistan und Tadschikistan gibt. Insbesondere in Nordafghanistan leben viele tadschikische Afghan*innen. Neben den Handelsbeziehungen gibt es auch starke kulturelle Verbindungen zwischen diesen beiden Ländern und Migrationsbewegungen.

Insbesondere Kinder afghanischer Flüchtlingsfamilien in Tadschikistan sind aber durch eine unzureichende Integration benachteiligt. Gleichzeitig zählt Tadschikistan zu den ärmsten der zentralasiatischen Staaten, die früher zur ehemaligen Sowjetunion gehörten.

Welche Projekte unterstützt terre des hommes dort?

In Tadschikistan unterstützen wir derzeit drei Projekte im Bereich der Flüchtlingshilfe. Dazu zählen Angebote wie Rechtsberatung sowie Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten zur Integration Geflüchteter. Dazu muss man hinzufügen, dass die Infrastruktur in Tadschikistan im Gesundheits- und Bildungsbereich unzureichend ist, es also kaum Schulen und medizinische Versorgungsmöglichkeiten gibt. In der Hinsicht hat sich seit der Unabhängigkeit von der damaligen Sowjetunion nicht viel verbessert. Daher zielt ein weiteres von terre des hommes gefördertes Projekt darauf ab, die Behandlungsmöglichkeiten für Patient*innen in einem Krankenhaus im Norden des Landes zu ermöglichen.

Bis zur Machtergreifung der Taliban war terre des hommes auch in Afghanistan stark engagiert. Haben Sie die Projektarbeit dort komplett einstellen müssen?

Die Projektarbeit musste für einige Zeit nach der Machtübernahme der Taliban eingestellt werden. Bereits drei Monate später konnten wir zum Glück die Projektarbeit wieder aufnehmen und in den Projektgebieten unserer Partnerorganisationen Nahrungsmittel verteilen. Mittlerweile können wieder alle Projekte weitestgehend vollständig ihre Arbeit fortsetzen.

Hilfsorganisationen wie terre des hommes mussten nach dem Sieg der Taliban afghanische Mitarbeiter*innen außer Landes in Sicherheit bringen. Wie sieht die Situation für einheimische Projektmitarbeiter*innen aktuell aus?

Nach den Evakuierungen im vergangenen Jahr befinden sich derzeit keine Mitarbeiter*innen von terre des hommes oder von Partnerorganisationen im Land, die akut gefährdet sind. Insbesondere zivilgesellschaftliche Akteure generell wie zum Beispiel bekannte und exponierte Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen sind weiterhin gefährdet. Die Sicherheitslage für Mitarbeiter*innen muss kontinuierlich beobachtet werden. Im Gegensatz zum ersten Taliban-Regime 1996 bis 2001 ist die Arbeit für Nichtregierungsorganisationen möglich. Es besteht weiterhin eine starke Präsenz internationaler Akteure, insbesondere der Vereinten Nationen. Darüber hinaus unterstützt terre des hommes Bemühungen, um ein vereinfachtes Aufnahmeprogramm für afghanische Flüchtlinge durchzusetzen.

Wie schätzen Sie die Situation im Land im Moment ein? Wie hat sich die Situation der Frauen unter den neuen Herrschern verändert?

Die Lage ergibt ein diffuses Bild. Seitens der Taliban-Regierung kamen auf der politischen Ebene anfangs positive Bekenntnisse, die Rechte von Frauen zu respektieren, sie stehen allerdings in deutlichem Widerspruch zur Praxis in den verschiedenen Provinzen. Es scheint vor allem für Akteure auf der lokalen Ebene schwierig zu sein, vom Kampf- in den Regierungsmodus zu wechseln. Die Taliban stehen unter hohem Druck, grundlegende Dienstleistungen für alle 38 Millionen Afghan*innen zu erbringen. Gleichzeitig sieht sich das Taliban-Regime mit einer anderen, jungen und selbstbewussteren Bevölkerung konfrontiert als bei der Machtübernahme vor 20 Jahren. Das sind Menschen, die in den letzten Jahren einige Freiheiten erringen konnten und diese nicht mehr aufgeben wollen. Das trifft insbesondere auf Frauen zu.

Trotz der positiven Zusagen seitens der Taliban kam es nach der Machtübernahme zu massiven Menschenrechtsverletzungen. Wurde auf nationaler Ebene eine Generalamnestie zugesagt, war und ist deren Umsetzung im Land stark von den lokalen Befehlshabern abhängig. Die versprochene Offenheit gegenüber der Partizipation und der Bewegungsfreiheit von Frauen und ethnische Minderheiten hat sich bisher nicht bewahrheitet, vielmehr gab es in den vergangenen Monaten erneute Rückschritte. So wird jungen Frauen entgegen ursprünglichen Zusagen der Zugang zu höherer Schulbildung weitestgehend versagt. Stattdessen gibt es Vorgaben der Taliban, das Tragen der Burka wieder einzuführen. Gleichzeitig haben aber sieben Provinzen schriftliche Genehmigungen für die höhere Schulbildung von Mädchen und junge Frauen erteilt.

Das Land steckt auch in einer schweren Wirtschafts- und Versorgungskrise. Wie wirkt sich das auf den Alltag der Menschen aus?

Die Taliban sehen sich aufgrund der massiven ausländischen Sanktionen und fehlender internationaler Anerkennung mit einer schweren ökonomischen Krise konfrontiert. Arbeitslosigkeit und Lebenshaltungskosten sind massiv angestiegen, die Wirtschaft steht kurz vor dem Kollaps. Die Bankenkrise hält weiter an, Geldtransfers ins Land sind massiv erschwert.  Die Möglichkeiten für die Menschen, an Bargeld zu kommen, sind sehr eingeschränkt, Gehälter für behördliche Angestellte können nicht gezahlt werden, weil es kein Geld gibt. Die finanzielle Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, die in den letzten Jahren drei Viertel des afghanischen Staatshaushaltes finanzierte, fehlt den Taliban jetzt an allen Ecken und Enden.

Darüber hinaus hat der NATO-Truppenabzug ein massives Sicherheitsvakuum hinterlassen. Während die Taliban intern zwischen afghanischen und pakistanischen Gruppierungen zerstritten sind, sehen sie sich selbst mit erstarkenden ISIS-Gruppierungen im Land konfrontiert.

Wie wirkt sich die Krise auf das Leben von Kindern aus?

Die Vereinten Nationen weisen zurecht immer wieder darauf hin, dass dem Land eine große Hungersnot droht. Bereits jetzt sind davon gerade Kinder massiv betroffen. Die Krise in Afghanistan ist eine Krise der Kinder: Rund zehn Millionen Kinder benötigen humanitäre Hilfe, um zu überleben. Neben Hunger und Mangelernährung besteht für Kinder die Gefahr, durch bewaffnete Kriegsparteien rekrutiert werden. Ferner ist anzunehmen, dass die psychosozialen Belastungen und die Erfahrungen häuslicher Gewalt aufgrund von Stress und Angst für Kinder zunehmen werden. Heranwachsende Mädchen sind zu Hause besonders gefährdet, da ihre Bewegungs- und Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt sind und ihnen der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie Gesundheit und Bildung verwehrt wird.

Als Folge von Armut besteht die Gefahr einer Zunahme der Kinderarbeit und von Zwangs- und Frühverheiratungen junger Mädchen.  

Wir sind die Pläne für die weitere Arbeit von terre des hommes in Afghanistan?

Alle Projekte können ihre Arbeit vorerst wie geplant umsetzen und erfahren derzeit keine massiven Einschränkungen. Besonders gefördert wird die Berufsausbildung von Kindern und ihre psychosoziale Betreuung. Allerdings muss die Art der Umsetzung angepasst werden - bei allen Maßnahmen ist eine strenge Trennung von Jungen und Mädchen Vorschrift.

Frauen dürfen nur in Begleitung von Ehemännern oder männlichen Verwandten (Maharam) längere Zeit das Haus verlassen. In thematisch besonders sensiblen Bereichen, zum Beispiel Menschenrechts-, Friedens- und Konfliktarbeit, ist es erforderlich, die Begrifflichkeiten anzupassen, um Verbote durch die Taliban zu umgehen.

Welche Rolle wird Tadschikistan in der Projektarbeit einnehmen?

Die Arbeit in Tadschikistan bietet die Möglichkeit eines verstärkten Austausches von Partnerorganisationen, denn die Sicherheitslage in Tadschikistan ist besser. Gleichzeitig leben bereits mehr als 20.000 afghanische Flüchtlinge im Land. Aufgrund der Sicherheitssituation und humanitären Notlage in Afghanistan ist zu erwarten, dass ihre Zahl trotz restriktiver Einreisebestimmungen der Nachbarländer in den folgenden Jahren zunehmen wird. Somit ergeben sich hier Perspektiven für eine längerfristige Flüchtlingsarbeit wie auch für die Unterstützung benachteiligter Gruppen in Tadschikistan.

16.5.22

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