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Afghanistan ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban

Positionspapier vom 8. August 2022

Am 15. August 2021 übernahmen die Taliban nach dem überhasteten Abzug der NATO-Truppen nach 20 Jahren erneut die Macht in Afghanistan. Ein Jahr danach herrscht in Afghanistan immer noch Ungewissheit über die politische und sozioökonomische Zukunft des Landes. Die wirtschaftliche, finanzielle und humanitäre Krise, die durch die Sanktionen und die Aussetzung der Entwicklungszusammenarbeit noch verschärft wurde, wirkt sich weiterhin negativ auf die Lebensbedingungen der Afghan*innen aus. Es herrscht eine massive Hungersnot. Mindestens 59 Prozent der Bevölkerung sind jetzt auf humanitäre Hilfe angewiesen - ein Anstieg um sechs Millionen Menschen im Vergleich zum Jahresbeginn 2021. Davon sind mehr als zehn Millionen Kinder (UN)1. Es wird befürchtet, dass in naher Zukunft über 90 Prozent der Bevölkerung unter die Armutsgrenze fallen werden.

Die generelle Sicherheitslage hat sich zwar verbessert, da die Taliban nun selbst an der Macht sind und keine Anschläge mehr verüben. Aber trotz des insgesamt deutlichen Rückgangs der bewaffneten Gewalt verzeichneten die UN zwischen Mitte August 2021 und Mitte Juni 2022 2.106 zivile Opfer (700 Tote, 1406 Verletzte). Die meisten der Opfer waren auf gezielte Angriffe des Islamischen Staates (ISIS) gegen ethnische und religiöse Minderheiten zurückzuführen. Darüber hinaus haben sich Widerstandsgruppen gegen die Taliban gebildet. Das entstandene Sicherheitsvakuum nach dem Truppenabzug birgt die Gefahr der Etablierung neuer/alter Terrorgruppierungen.

Seit dem 15. August wurden die Menschen- und insbesondere Frauenrechte durch die Taliban stark eingeschränkt. Zwar wurde eine nationale Amnestie für ehemalige Regierungsbeamte und Angehörige der afghanischen Sicherheits- und Verteidigungskräfte erlassen. Dennoch wurden zwischen dem 15. August 2021 und dem 15. Juni 2022 mindestens 160 außergerichtliche Tötungen von ehemaligen Regierungs- und Sicherheitsbeamten durch Angehörige der De-facto-Behörden gemeldet.

Die Rechte von Frauen auf Teilhabe am Bildungswesen und am Arbeitswesen und ihre Bewegungsfreiheit wurden stark eingeschränkt und in vielen Fällen sogar ganz aufgehoben. Die Entscheidung, den Mädchen die Rückkehr in die Sekundarschule zu verweigern, bedeutet, dass eine ganze Generation von Mädchen ihre 12-jährige Schulausbildung nicht abschließen wird.

Das neue Regime hat versucht, abweichende Meinungen zu unterdrücken, indem es gegen Proteste vorging und die Medienfreiheit einschränkte, indem es willkürlich Journalist*innen, Demonstrant*innen und zivilgesellschaftliche Aktivist*innen verhaftete und Beschränkungen für Medienanstalten erließ. Dennoch gehen die Proteste weiter, Frauen und Mädchen sind nach wie vor auf der Straße und fordern ihre Rechte ein, ebenso wie die Organisationen der Zivilgesellschaft, Journalist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen.

Eine Fortführung der humanitären Hilfe und der längerfristigen Entwicklungszusammenarbeit sind zwingend erforderlich, will die deutsche Bundesregierung den eigenen Zusagen, die afghanische Zivilbevölkerung nicht vergessen zu wollen, Rechnung tragen.

 

Was tut terre des hommes

Neben den UN-Organisationen sind Nichtregierungsorganisationen die wichtigsten Akteure in Afghanistan, um die bedürftigen Menschen zu erreichen und zu unterstützen. terre des hommes Deutschland und seine Partnerorganisationen unterstützen Projektmaßnahmen in elf afghanischen Provinzen. Im letzten Jahr konzentrierten sich die Maßnahmen auf die Bereitstellung von Nahrungsmitteln und medizinischer Hilfe sowie Bildungs- und Berufsbildungsprogramme. Für die Kinder in Afghanistan geht es um ihr Überleben und vorrangig um eine angemessen Nahrungsmittelversorgung und gesundheitliche Versorgung. Langfristig müssen der Zugang zu Bildung und der Schutz vor Ausbeutung gewährleistet werden. Jetzt ist es an der Zeit, die Menschen in Afghanistan trotz aller Hürden zu unterstützen.

 

Forderungen an die deutsche Bundesregierung

  • Die Unterstützung der afghanischen Zivilbevölkerung muss auf eine langfristige Entwicklungszusammenarbeit ausgerichtet sein und nicht nur die derzeitigen humanitären Bedarfe abdecken.
  • Die finanzielle Unterstützung sollte verstärkt über internationale und lokale Nichtregierungsorganisationen, die über langjährige Expertise in Afghanistan verfügen, umgesetzt werden.
  • Die deutsche Bundesregierung muss humanitäre Hilfe trotz des Sanktionsregimes ermöglichen und die Umsetzung der Resolution 26152 gewährleisten, der zufolge humanitäre Hilfe von den Sanktionen ausgeschlossen ist. Hierzu zählt u.a. ein reibungsloser Mitteltransfer für humanitäre Hilfsgelder und Mittel der Entwicklungszusammenarbeit. Die deutsche Bundesregierung muss Banken zusichern, dass sie keine Konsequenzen bei der Überweisung von humanitären Hilfsgeldern zu befürchten haben. Das Menschenrecht auf humanitäre Hilfe muss höher wiegen als eine Null-Risiko-Politik bei der Einhaltung von Sanktionen.
  • Zur Aufarbeitung des Gesamteinsatzes der deutschen Bundeswehrtruppen als auch dem überhasteten Abzug und der Evakuierung der afghanischen Ortskräfte hat die Bundesregierung eine Enquete Kommission sowie einen Untersuchungsausschuss eingesetzt. Die Aufarbeitung des Gesamteinsatzes vor allem im Rahmen der Enquete Kommission sollte eine umfassende Beteiligung internationaler und lokaler zivilgesellschaftlicher Akteure und Diasporaorganisationen einschließen.

(1) https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/blog/kinder-in-afghanistan-7-fakten/250238; https://unama.unmissions.org/un-releases-report-human-rights-afghanistan-taliban-takeover

(2) »Der Sicherheitsrat (…) beschließt, dass humanitäre Hilfe und andere Aktivitäten der Unterstützung der menschlichen Grundbedürfnisse in Afghanistan kein Verstoß (…) sind.«

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