Schutzbedürftige Menschen nicht in Afghanistan zurücklassen!
Seit 2012 unterstützt terre des hommes Projekte in Afghanistan, seit 2014 auch durch das BMZ kofinanzierte Projekte. Thematisch hat sich terre des hommes in Afghanistan einerseits auf die Begleitung von binnenvertriebenen Menschen und Gemeinschaften und andererseits auf die Stärkung der Frauen- und Kinderrechte fokussiert. Alle Projektmaßnahmen von terre des hommes werden in Kooperation mit lokalen Partnerorganisationen umgesetzt. Mit unserem konsequenten Bezug zu den Menschenrechten war klar, dass wir und unsere Partnerorganisationen ins Visier der Taliban kommen, gerade weil wir uns nicht einfach als einen Service Delivery, einen Dienstleister verstehen. terre des hommes hat selber 74 Personen auf die Evakuierungsliste gestellt, bis jetzt konnten 38 tatsächlich evakuiert werden.
Ich erinnere mich sehr gut an die ersten Evakuierungsversuche unmittelbar nach dem Umsturz der Taliban. Wir bekamen pausenlos verzweifelte Anfragen von Mitarbeitenden unserer Partnerorganisationen, von unserem Team und aus unseren Netzwerken. Wir stellten hastig Listen zusammen, versuchten, die Menschen in mögliche Flüge zu bringen. Aus der Evakuierungsliste wurde schnell eine Visaberechtigungsliste, und die möglichen Flüge wurden immer unmöglicher, bis die letzte Hoffnung wegen zu großem Risiko kurz vor dem Abzug der letzten amerikanischen Truppen vom Flughafen Kabul fallengelassen werden musste. Die Frustration war sehr groß, die Gefahr und die Bedrohung der Menschen noch viel größer.
Diese ersten Erfahrungen waren aber dennoch in dem Sinne positiv, weil es auf alle Fälle gelang, zum Beispiel Kontakte mit dem Auswärtigen Amt (AA) zu etablieren und vor allem fragmentierte Initiativen einander näher zu bringen, um eine komplementäre und das gemeinsame Anliegen stärkende Kooperation zu ermöglichen. Der Grund dieser Pressekonferenz bestätigt, dass wir gemeinsam auf einem sehr guten Weg sind.
Möglich geworden sind dieser erste spendenfinanzierte Charterflug und vorherige Evakuierungen auf Linienflügen auch durch die gute Zusammenarbeit mit der Deutschen Botschaft in Islamabad. Dennoch ist es wichtig zu unterstreichen, dass die Haltung der Bundesregierung im Allgemeinen aber doch von einer hartnäckigen Halbwilligkeit gekennzeichnet ist.
Klar, die Evakuierungen waren auch für das AA eine außergewöhnliche Situation (auf die es sich aus den damaligen Botschaftsberichten aus Kabul hätte vorbereiten können, wie wir wissen), aber bis heute hat das AA nicht einmal an allen Botschaften der Nachbarländer das Personal aufgestockt. Da scheint es klar an politischem Willen zu fehlen.
Unzählige Fälle bedrohter Personen, die sich fristgemäß beim AA gemeldet haben, sind auf keiner Liste auffindbar. Und selbst jene, die es irgendwie auf die Liste geschafft haben, wurden an die IOM (International Organization for Migration) outgesourct. Die IOM hat genau ein einziges Mal allen auf der Menschenrechtsliste aufgeführten Personen eine nicht mal personalisierte Aufnahmezusage geschickt, seitdem hat niemand mehr von ihr gehört. Und das vor dem Hintergrund, dass das AA im Grunde bis heute empfiehlt, auf ihren Kontakt zu warten und sich nicht unbedingt eigenständig auf den Weg zu machen! Eine Aufnahmezusage ohne die eigentliche Aufnahme ist gerade mal so viel wert wie das Papier, auf dem sie gedruckt ist.
Die willkürliche Festlegung von unverständlichen Fristen und nicht realistischen Kontingenten, die wir vor allem im Bundesinnenministerium (BMI) verorten, hat zu einem Zweiklassensystem geführt, das Ortskräfte prioritär behandelt, während massiv bedrohte Menschenrechtsaktivist*innen ihrem Schicksal überlassen bleiben.
Auch möchte ich darauf aufmerksam machen, dass die Bundesregierung mit der Handhabung des sehr europäischen Konzeptes der »Kernfamilie« sehr stark an der realen Situation der Menschen vorbei »kooperiert«. terre des hommes hat als Beispiel dafür eine Familie mit fünf Personen evakuiert. Bei der Evakuierung stellten wir jedoch plötzlich fest, dass nur vier Personen mitgekommen waren. Wir fragten nach der fünften Person. Sie wurde in Herat zurückgelassen, um die alleine zurückgebliebenen Großeltern zu pflegen und zu begleiten. Erschütternd ist, dass diese fünfte Person ein sechsjähriger Knabe ist.
Darum fordern wir von der neuen Bundesregierung:
- Ein unmittelbares Ende der hartnäckigen Halbwilligkeit und ein klares und transparentes Einlösen der im Diskurs immer wiederholten Versprechen.
- Keine unrealistischen Kontingente und keine willkürlichen Fristen, sondern Aufnahme unmittelbar gefährdeter und besonders schutzbedürftiger Menschen inklusive ihrer Familien (im Kontext eines würdigen Familienverständnisses).
- Sofortige Einrichtung einer effektiven Luftbrücke, um die Gefährdeten und ihre Familien nach Deutschland oder in sichere Drittstaaten zu bringen.
- Effektive staatliche Unterstützung bei der Ausreise von Personen mit Aufnahmezusage. Der AA-Sonderfonds ist dafür ein guter Anfang.
Dass Evakuierungen möglich sind, hat die Initiative Kabul-Luftbrücke eindrücklich gezeigt. Wir sind bereit, unseren komplementären Beitrag zu leisten, und erwarten von der Bundesregierung ein konsequentes Vorgehen: Die schutzbedürftigen Personen dürfen nicht in Afghanistan zurückgelassen werden.
Beat Wehrle
Vorstand Programme
terre des hommes Deutschland e.V.
16.11.2021