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»Bitte kein Mädchen«

Noch immer wünschen sich schwangere Inderinnen einen Jungen. Das muss sich ändern. Ein Kommentar von Ingrid Mendonça, Leiterin des terre des hommes-Büros Südasien in Pune/Indien.

Als meine Cousine kürzlich ein Mädchen bekam, tröstete ihre Großmutter sie mit den Worten: »Nächstes Mal wird’s ein Junge.« Diese Haltung ist in Indien noch immer weit verbreitet, nicht nur in den ländlichen und oft als »rückständig« angesehenen Regionen, sondern auch in der fortschrittlich denkenden und privilegierteren städtischen Mittelschicht, aus der ich komme. Das habe ich selbst erlebt, als ich schwanger war. »May you get a little Krishna«, wünschten mir wohlmeinende Freundinnen und Verwandte. Meine Antwort »Ich wünsche mir ein Kind« stieß vielfach auf Irritation. Auch mein Arzt gratulierte mir nach der Geburt nicht zu meinem Kind, sondern zu meinem Sohn.

Zahlreiche Faktoren führen zur Geringschätzung der Mädchen: die Tradition der Mitgift (»Dowry«) bei der Verheiratung der Tochter, für die gerade arme Familien lange sparen müssen; die Kosten für die Hochzeit, die ebenfalls die Eltern der Braut tragen; der Wunsch, die männliche Abstammungslinie fortzusetzen; die Hoffnung der Eltern, von den Söhnen im Alter gut versorgt zu werden.

Die Folgen dieser Haltung sind katastrophal: Rund 7.000 weiblich Föten werden in Indien abgetrieben – pro Tag. Das sind Schätzungen, denn die pränatale Geschlechtsbestimmung ist in Indien verboten, wird aber überall praktiziert. Die Folgen zeigen sich in der indischen Demographie: Wurden um 1900 noch 3,2 Millionen Mädchen weniger geboren als Jungen, betrug die »Lücke« im Jahr 2000 bereits 35 Millionen. Der letzte indische Zensus von 2011 brachte das alarmierende Geburtenverhältnis auf den Punkt: Auf 1.000 Jungen unter sechs Jahren kommen landesweit 914 Mädchen – die niedrigste Rate seit der Unabhängigkeit des Landes 1948. In einigen Regionen wie dem nordindischen Bundesstaat Haryana finden Männer heutzutage keine Ehefrauen mehr. Es gibt dort einfach kaum noch Frauen und Mädchen.

In der Tat muss, um das ganze Ausmaß der Tragödie zu sehen, der Blick auch auf die geborenen Mädchen und ihr Schicksal gerichtet werden. Ihnen droht in Indien weit verbreitete direkte wie indirekte Gewalt. Sie werden geschlagen, misshandelt und vernachlässigt, sie arbeiten von früh bis spät und bekommen weniger zu essen und dann als letzte nur die Reste dessen, was sie für ihre Familie gekocht haben. Und sie sind strukturell benachteiligt: Ihre Brüder gehen zur Schule, machen eine Ausbildung und studieren, sie bleiben als Arbeitskraft im Haushalt und bedienen die Familie, sie werden früh verheiratet, haben kein eigenes Einkommen und sind in totaler Abhängigkeit von ihren männlichen Verwandten. Millionen Mädchen werden, wenn sie das Licht der Welt überhaupt erblicken, von Geburt an benachteiligt. Sie bleiben arm, gebären Kinder und hoffen ihrerseits, dass es Jungen werden.

Und doch gibt es Aussicht auf Hoffnung. In der modernen indischen Gesellschaft setzt sich das Bild der selbstverantwortlichen berufstätigen Frau allmählich durch. Mehr und mehr Familien »investieren« in ihre Töchter, es mehren sich die anfänglich als moderne Märchen empfundenen Geschichten der erfolgreichen Frau, die etwas gelernt hat und ihre Familie davon profitieren lässt. Große Begeisterung herrschte über die bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro auftretenden indischen Athletinnen – sie brachten trotz bescheidener Medaillenausbeute ihrem Land Ruhm und Anerkennung. In der indischen Metropole Pune gibt es seit kurzem die erste weibliche Taxifahrerin.

Wertschätzung und der Appell, dass die Kinderrechte für alle Kinder gelten, wird in Indien durch die konkrete Programmarbeit zahlreicher Nichtregierungsorganisationen wie terre des hommes verstärkt und findet zunehmend Resonanz. Hier zählt praktische Hilfe: Arme Familien bekommen Stipendien für den Schulunterricht der Mädchen, Beraterinnen unserer Partnerorganisationen gehen in die Dörfer und klären die Familien über den Wert eines Schulbesuchs und einer wertschätzenden Erziehung der Mädchen auf. Beispiele von Mädchen, die einen Beruf gefunden haben, machen Schule, spornen an und motivieren andere Mädchen und ihre Familien. »Fördere ein Mädchen, und du förderst ihre Familie, ihr Umfeld, ihre Nation« – das ist die Philosophie, die uns leitet auf dem langen Weg hin zu einer gleichberechtigten Gesellschaft.

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