Nepal: Ein selbstbestimmtes Leben für Mädchen und Frauen
Gita findet ihren Weg
In Surkhet, Nepal, wachsen Mädchen in Systemen der Stigmatisierung und sozialen Ausgrenzung auf. Doch mit Hilfe der Kinder- und Frauenrechtsorganisation »AAWAAJ« erkämpfen sie sich die Chance auf eine bessere Zukunft. Gita (18 Jahre) aus Panchapuri ist eine von ihnen.
Die Geschwister hatten später einmal zur Schule gehen sollen. So hatten es sich ihre Eltern erträumt, als sie nach Panchapuri im Nordwesten Nepals zogen, um sich ein besseres Leben aufzubauen. Doch der Armut entkamen sie nicht. Wie viele Männer in der Region musste Gitas Vater schließlich versuchen, als Tagelöhner in Indien Arbeit zu finden. Von dort schickte er eine Zeit lang das dringend benötigte Geld, um den Kindern – Gita, ihrer älteren Schwester und ihrem jüngeren Bruder – genug zu Essen und die erhoffte Ausbildung zu ermöglichen.
Doch als Gita gerade fünf Jahre alt war, brach ihre Familie auseinander. Ihr Vater starb. Die Mutter konnte die Kinder allein nicht ernähren: Selbst einen Beruf auszuüben und Geld zu verdienen, ist für viele Frauen in Panchapuri unerreichbar. Zu traditionell ist das Gesellschaftsbild, zu sehr werden Mädchen von klein auf auf eine Rolle im Haushalt und auf dem Feld getrimmt.
Sie sah keine andere Möglichkeit, als neu zu heiraten und die Kinder zurückzulassen.
Die Geschwister wurden getrennt. Gita und ihr Bruder kamen in der Obhut eines Mahayana-Klosters in Kathmandu, doch nach dessen Regeln mussten die beiden abseits voneinander leben. Sechs lange Jahre verbrachten sie dort. Dann, 2018, erreichte sie die Nachricht, dass auch ihre Mutter gestorben war. Im Kloster fühlte sich Gita nun noch verlorener als zuvor. »Nach dem Tod unserer Mutter haben wir viele Tage und Nächte geweint«, erinnert sie sich heute. Gita und ihr Bruder wollten wieder ein Zuhause. Sie wollten zu ihrer Schwester, die als einzige im Elternhaus geblieben war.
»Chhaupadi« – Diskriminierung von Mädchen und Frauen in Surkhet, Nepal
In der Provinz Surkhet im Westen Nepals herrscht ein traditionalistisches System vor, in dem Mädchen und Frauen oft als Menschen zweiter Klasse betrachtet werden. Von politischen Entscheidungen werden sie ausgeschlossen. Mädchen werden oft im Kindesalter verheiratet, häusliche und sexuelle Gewalt sind weit verbreitet. Die meisten Frauen haben keinen Ausweg: Sie sind wirtschaftlich abhängig, viele kümmern sich um Haus und Kinder, während ihre Ehemänner versuchen, im Ausland Geld zu verdienen. Durch die hohe Arbeitsmigration gibt es zugleich hohe Infektionszahlen mit sexuell übertragbaren Krankheiten. Auch mangelnde Gesundheitsversorgung für Frauen während und nach der Schwangerschaft ist ein Problem.
Hartnäckig hält sich im Westen Nepals das »Chhaupadi«-System, eine Tradition, nach der Frauen während ihrer Periode als »unrein« stigmatisiert und aus dem sozialen Leben verbannt werden. In sogenannten »Chhau Gotha«, Menstruationshütten, müssen manche tagelang ausharren. In dieser Zeit sind sie abhängig davon, dass sie - ebenso wie ihre kleinen Kinder - mit Wasser und Nahrung versorgt werden. Immer wieder kommt es zu Unfällen, etwa durch Schlangebisse. Das System ist gesetzlich verboten, kulturell jedoch gerade in entlegenen Regionen stark verankert.
AAWAAJ kämpft gegen traditionelle Praktiken und Diskriminierung an
Ihre ältere Schwester sorgte nun für die drei, indem sie als Lohnarbeiterin Geld verdiente. Dank ihr konnten Gita und ihr Bruder die Dorfschule besuchen. Doch das Geld reichte kaum, die Situation der Geschwister blieb prekär. Das strohgedeckte Haus war alt und baufällig. Immer wieder litten sie Hunger.
In dieser Situation bekam sie zum ersten Mal echte Unterstützung und die Chance auf ein besseres Leben. Und Gita nutzte sie.
2021 gründete die Organisation AAWAAJ vor Ort eine Gruppe für Kinder, die wie Gita von der Gemeinschaft vergessen worden waren. Hier wurde sie ermutigt, ihren Talenten nachzugehen und sich ihrer Stärken bewusst zu werden, aber auch offen über ihre Probleme zu sprechen. Sie erlernte grundlegende Alltagskompetenzen – nicht zuletzt erfuhr sie, auf welche staatlichen Hilfen sie eigentlich Anspruch hatte.
Helfen Sie mit einer Spende, die Rechte von Mädchen und Frauen zu schützen!
AAWAAJ – »Die Stille durchbrechen«
Die Kinder- und Frauenrechtsorganisation AAWAAJ geht im Westen Nepals gegen Diskriminierung, Verarmung, sexuelle Ausbeutung und Gewalt gegen Frauen vor. »Aawaaj« bedeutet so viel wie »Klang« oder »Geräusch«. Das Ziel der Organisation: »breaking the silence« – das stille System der Unterdrückung zu durchbrechen und gegen die stillschweigende Duldung geschlechtsspezifischer Rechtsverletzungen im Westen Nepals vorzugehen.
AAWAAJ klärt auf, sorgt für Rechtsschutz, bekämpft Kindesmissbrauch, Kinderheirat und Kinderhandel. Zudem setzt sich die Organisation dafür ein, die Gesundheit von Frauen besser zu schützen, insbesondere während und nach der Schwangerschaft. Ein wichtiger Aspekt der Arbeit ist dabei der Dialog mit Jungen und Männern, um kulturelle Tabus zu entkräften und eine insgesamt sicherere, ermutigendere Kultur für Mädchen und Frauen zu fördern.
AAWAAJ wird aus Deutschland in Partnerschaft von terre des hommes und Misereor unterstützt.
Eine selbstbestimmte Zukunft
Gita erfuhr von der »Child Helpline«, einem Notruf für Kinder, der ebenfalls von AAWAAJ betrieben wird. Dort erzählte sie ihre Geschichte. Nachdem ein Mitarbeiter sie besucht und ihre Situation bestätigt hatte, bekamen die Geschwister endlich Hilfe: Sachspenden für den Unterricht – Stifte, Hefte, Kleidung – und Lebensmittel. AAWAAJ stellte Gita auch eine Ziege zur Verfügung: »Ich züchte jetzt Ziegen und verkaufe sie, um die Kosten für die Schule meines Bruders und für mich zu decken«, sagt sie stolz.
Inzwischen wurde Gita zur Sprecherin der Kindergruppe ernannt. Was sie lernt, gibt sie anderen weiter: ihren Freundinnen und anderen Kindern, aber auch mit dem Bezirksamt und der Polizei hat Gita schon über die Diskriminierung von Mädchen gesprochen. Schon bald würde sie gern selbst für die Regierung arbeiten.
Sie weiß nun: Diese Entscheidung liegt ganz allein bei ihr. Und in jedem Fall, sagt Gita, möchte sie dann dafür sorgen, dass ihr Bruder weiter zur Schule gehen kann.
27.09.2024