»Um der Gerechtigkeit willen«
Wie terre des hommes in Vietnam hilft
Auf Krücken, auf eine Trage gebettet, mit verbundenen und geschienten Gliedern – so kommen vietnamesische Kriegskinder Ende der 1960er Jahre auf deutschen Flughäfen an. Viele haben Brandwunden an Hals, Armen und Händen. Sie werden sofort in Kliniken versorgt. Mit ihnen rückt ein grausamer Krieg in greifbare Nähe, der in Deutschland mit der Formel gerechtfertigt wird: »In Vietnam wird die Freiheit Berlins verteidigt.« Doch klar ist auch: Dort werden Kinder getötet und verstümmelt. Anfang 1968 erschießen US-Marines kaltblütig alle 500 Bewohner des Dorfes My Lai. Ein US-Fotograf, der dabei war, notiert: »Da waren zwei kleine Jungen, einer vielleicht vier. Als die Knallerei begann, fiel der ältere Junge nach vorn, um den kleinen zu schützen. Ein Soldat ging auf die beiden zu, feuerte sechs Schüsse in die Kinder und ließ sie einfach liegen.«
Beginn der Adoptionsvermittlung
Mit terre des hommes kümmert sich erstmals eine Organisation hier um das Leid. Studierende, Schülerinnen und Schüler, Hausfrauen, Angestellte oder Geistliche melden sich, bringen die Kinder während der Behandlung unter, gründen Gruppen von Ehrenamtlichen, verteilen Flugblätter, protestieren und sammeln Geld. In Oberhausen entsteht ein Friedensdorf zur Rehabilitation. In seiner Charta verpflichtet sich terre des hommes, »ohne Vorbehalte politischer, konfessioneller und rassischer Art« zu helfen, »um der Gerechtigkeit willen«. 1968 wird ein Geschäftsführer eingestellt. Und terre des hommes beginnt mit der Adoptionsvermittlung von Waisen.
Luftbrücke für verletzte Kinder
In Vietnam werden bald Tausende Kinder in Waisenhäusern und einem Krankenhaus versorgt. Krankenschwestern und Ärzte werden angestellt. Das Ausmaß der Hilfe ist so groß, dass sie den USA missfällt. Sie machen dem Marionettenregime in Saigon Druck, terre des hommes die Arbeit zu erschweren. Doch terre des hommes lässt sich nicht einschüchtern, verurteilt den Bombenkrieg und richtet sogar eine Luftbrücke für Kinder in Not ein. In Deutschland und Vietnam entstehen Einrichtungen für kriegsverletzte, unterernährte, kranke Kinder und orthopädische Werkstätten.
Nach dem Krieg ist Hilfe erst recht nötig
Als 1975 Südvietnam kapituliert und die USA das Land fluchtartig verlassen, bleibt terre des hommes als eine der wenigen internationalen Hilfsorganisationen vor Ort. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter liefern Reis und Medikamente, unterstützen Ärzte und Pfleger bei Impfaktionen, helfen bei der Suche nach Angehörigen für die Waisenkinder – und kritisieren die Bundesregierung scharf für ihr Nichtstun. Mit dem vietnamesischen Roten Kreuz entsteht in Saigon das erste Projekt, ein Zentrum für unterernährte Waisenkinder, das »Center for the Rehabilitation of Malnourished Orphaned Children« (CROM). Eine gleichberechtigte Partnerschaft entwickelt sich.
Vorwürfe gegen terre des hommes
Aber auch Kritik kommt auf: Stützt man nicht einen Unrechtsstaat, aus dem Menschen fliehen? terre des hommes verschließt davor nicht die Augen und hilft auch vietnamesischen Bootsflüchtlingen. Allerdings bleibt klar: Hilfe ist in dem weitgehendverwüsteten und isolierten Land, in dem Bomben, Minen, chemische Kampfmittel und Entlaubungsgifte wie »Agent Orange« weiterhin Missbildungen hervorrufen, bitter nötig. 1983 eröffnet terre des hommes in Ho-Chi-Minh-Stadt das Rehabilitationszentrum für querschnittsgelähmte und körperbehinderte Kinder und Jugendliche (CREP). Ein Osnabrücker Architekt hat es ehrenamtlich entwickelt. Die Kosten von 3,5 Millionen Mark tragen 2.000 Spenderinnen und Spender. Hier werden Kinder behandelt, erhalten Prothesen oder Rollstühle.
Hilfe für behinderte Kinder
Mit den Rehabilitationseinrichtungen CREP und CROM hat terre des hommes zwei wichtige Einrichtung zur Unterstützung behinderter und unterernährter Kinder geschaffen. Doch es sind vor allem Kinder auf dem Land und in abgelegenen Regionen, die Hilfe brauchen. terre des hommes konzentriert sich nun darauf, dezentrale Gesundheitsdienste in den ländlichen Regionen aufzubauen. Damit wird es nun möglich, unterernährte Kinder und Opfer von Agent Orange in ihren Dörfern vor Ort zu versorgen. Immer stärker rückte nun die Arbeit auf dem Land und in abgelegenen Regionen in den Mittelpunkt.
Vietnam heute: Hilfe für benachteiligte Kinder
Heute, 50 Jahre später, ist in Vietnam viel erreicht. Armut und Analphabetentum gingen zurück. Viele Kinder, denen terre des hommes geholfen hat, sind heute Krankenschwestern, Ärzte, selbstständig oder arbeiten in Behörden. Doch Industrialisierung und ein rasantes Bevölkerungswachstum auf fast 100 Millionen Einwohner schaffen neue Herausforderungen. Immer mehr junge Menschen verlassen die Dörfer und suchen ihr Glück in den schnell wachsenden Metropolen des Landes.
Die mit dem Wirtschaftswachstum einhergehende Umwelt- und Luftverschmutzung ist ein großes Problem. Auf dem Land, vor allem im Norden, herrscht nach wie vor bittere Armut, Schulen und Krankenhäuser sind knapp. In der Not sind viele Menschen auf der Suche nach Arbeit auch in die Städte und Vorstädte gezogen. »Aber selbst für junge Leute gibt es kaum Arbeit und Ausbildung«, sagt terre des hommes-Koordinator Nguyen Te The. Sie landen auf den Straßen, arbeiten, betteln oder stehlen. Auch die Gewalt nimmt zu. terre des hommes setzt sich deshalb heute für arbeitende Kinder oder Straßenkinder ein, die sich allein durchschlagen müssen. Sie erhalten Gesundheitsvorsorge und werden, wenn möglich, in Familie und Schule reintegriert.
Bitte unsterstützen Sie unsere Arbeit für Kinder in Vietnam mit Ihrer Spende. Vielen Dank!
Weitere Informationen:
- Bericht über ein 'Wasserprojekt im Norden Vietnams
- Interview mit Albert Recknagel, Vorstand Programme terre des hommes, über die Perspektiven der Projektarbeit im Land