Südsudan: Leben auf der Flucht
Interview mit Chris Hartmann, Koordinator für humanitäre Hilfe bei Terre des Hommes
Seit April 2023 tobt im Sudan ein Machtkampf zwischen den Streitkräften unter General Abdel Fattah Abdelrahman Burhan und der paramilitärischen Gruppe Rapid Support Forces (RSF). Der Konflikt hat bereits zehntausende Tote gefordert, Millionen sind auf der Flucht. Auch in den benachbarten Südsudan strömen täglich Hunderte auf der Suche nach Sicherheit. Viele von ihnen waren erst vor wenigen Jahren vor den bewaffneten Kämpfen im Südsudan in den Sudan geflüchtet und kehren nun zurück – erneut auf der Flucht vor Gewalt. Mittlerweile hat der Südsudan über eine halbe Million Geflüchtete aufgenommen. Chris Hartmann (48) ist bei Terre des Hommes zuständig für humanitäre Hilfe. Im Interview berichtet er über die aktuelle Situation und wie Terre des Hommes die Geflüchteten im Südsudan unterstützt.
Chris, wie geht es den Menschen, die aus dem Sudan in den Südsudan fliehen?
Viele leiden unter Unterernährung, besonders Kinder. Das Welternährungsprogramm (WFP) verteilt zwar Lebensmittel und Bargeldhilfen, es ist aber zu wenig. Die Geflüchteten haben meist auch keinen Zugang zu landwirtschaftlichen Flächen, um ihre Situation selbst zu verbessern. Viele sind verzweifelt – Partnerorganisationen berichten von einer Zunahme der Suizidversuche in Aufnahmezentren aufgrund der prekären Bedingungen. Das ist ein erschütterndes Zeichen des Mangels an Hoffnung angesichts der Unsicherheit und der langanhaltenden Krisen. Die Geflüchteten benötigen dringend eine bessere humanitäre Versorgung, Unterbringung und Schutz. Es müssen aber auch Perspektiven geschaffen werden, insbesondere für junge Menschen.
Wo kommen die meisten Geflüchteten an?
Die Ortschaft Renk im Nordosten des Landes ist für viele ein erster Anlaufpunkt. Hier hat das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) in Zusammenarbeit mit der südsudanesischen Regierung zwei Aufnahmezentren eingerichtet. Sie sind jedoch überlastet. Zusätzlich verschärfen Überschwemmungen in Renk und Maban die Lage und stellen die Menschen vor weitere Gefahren und Herausforderungen.
Wie geht es den Kindern auf der Flucht?
Kinder, Jugendliche und Frauen leiden am meisten unter diesen schwierigen Lebensumständen. In den Aufnahmezentren werden vermehrt Gewalttaten gegenüber diesen Gruppen dokumentiert. Auch Fälle von Kinderarbeit nehmen aufgrund der prekären Versorgungslage zu, ebenso wie Fälle häuslicher Gewalt. Zudem haben die Flucht, der Verlust von Angehörigen, Eigentum und Vermögenswerten und die harten Lebensbedingungen in den Aufnahmegebieten nachhaltige psychologische Auswirkungen.
Was benötigen die Ankommenden und besonders die Kinder unter ihnen am dringlichsten?
Nahrungsmittel, psychosoziale Unterstützung und Bildung: Bisher sind rund 255.000 Kinder und Jugendliche mit ihren Familien in den Südsudan geflohen. Das ohnehin schwache Bildungssystem kann den zusätzlichen Bedarf dieser Kinder und Jugendlichen nicht decken. Auch in den Aufnahmezentren sind Bildungsangebote kaum verfügbar.
Was sind die größten Hindernisse, Hilfsgüter in den Südsudan zu bringen?
Das sind vor allem die schweren Regenfälle und Überschwemmungen im Norden des Landes. Dadurch sind die Logistik und der Transport beeinträchtigt. Auch die schwierige wirtschaftliche Lage und die hohe Inflation wirken sich aus: Allein im Jahr 2024 betrug die Inflationsrate im Südsudan 63 Prozent. Die Marktpreise sind gestiegen, die Löhne sind jedoch weiterhin niedrig oder werden gar nicht gezahlt. Die Kosten für die Bereitstellung von Hilfsgütern in schwer zugänglichen Gebieten steigen. Bürokratische Hürden erschweren die humanitäre Hilfe zusätzlich, ebenso neu eingeführte Steuern und Abgaben, die die Betriebskosten weiter steigen lassen.
Wie wichtig ist die Rolle der lokalen Partner bei der Bereitstellung von Nothilfe im Südsudan?
Die aktuelle Lage erfordert die Beteiligung aller relevanten humanitären Akteure. Hierzu zählen die UN sowie internationale und lokale Nichtregierungsorganisationen. Letzteren kommt dabei eine besondere Rolle zu, da sie die Bedingungen und Bedarfe vor Ort kennen und angemessen bedienen können. Hierfür sind eine gute Koordination und Arbeitsteilung erforderlich. Lokale Partner müssen hierbei gefördert werden. Sie bleiben vor Ort und können die humanitäre Hilfe in eine längerfristige Entwicklungszusammenarbeit übergehen lassen. Nachhaltige und dauerhafte Partnerschaften spielen eine große Rolle und bieten die Möglichkeit, ein Mindestmaß an Kontinuität herzustellen. Das fördert Verbindlichkeit und Vertrauen.
Welche Strategien verfolgt Terre des Hommes, um die Lebensbedingungen der Geflüchteten und der lokalen Bevölkerung zu verbessern?
Unsere Partnerorganisation, der Jesuit Refugee Service (JRS), konzentriert sich auf Soforthilfe, aber auch auf die Förderung von dauerhaften Lösungen und Maßnahmen. Die Menschen sollen gestärkt werden, um Krisensituationen entgegentreten zu können. Bei den Maßnahmen werden humanitäre, friedens- und entwicklungspolitische Aktivitäten miteinander verbunden. Geflüchtete, Rückkehrer*innen und Angehörige der Aufnahmegemeinschaften werden gleichermaßen einbezogen und gefördert.
Im Norden des Landes konzentrieren sich die Hilfsmaßnahmen auf die psychosoziale Unterstützung von Geflüchteten und Rückkehrer*innen, also Südsudanes*innen, die einst vor der Gewalt im Südsudan in den Sudan geflohen waren und nun zurückkommen – wiederum auf der Flucht vor Gewalt. Wir helfen ihnen, mit der Belastung umzugehen und ihre mentale Gesundheit zu verbessern. Diese Aktivitäten werden mit friedensfördernden Maßnahmen kombiniert. Wir wollen positive soziale Interaktionen und ein friedliches Zusammenleben zwischen Geflüchteten, Rückkehrer*innen und Aufnahmegemeinschaften fördern und Konflikten vorbeugen. Verstärkte Integration sowie gestärkte soziale Beziehungen und Netzwerke haben außerdem positive Auswirkungen auf die mentale Gesundheit. Zusätzlich werden Bildungsmaßnahmen in den Aufnahmezentren und -gemeinden durchgeführt, um vertriebenen Kindern die Rückkehr in die Schule zu ermöglichen und die Zahl der Schulabbrecher*innen zu verringern.
Auch in den südlichen Provinzen konzentrieren sich die Maßnahmen darauf, die Geflüchteten und ihre Aufnahmegemeinschaften durch Bildungs-, Unterstützungs- und Versöhnungsprogramme zu stärken. Aufgrund der relativen Sicherheit in diesen Regionen können diese Programme langfristig angelegt und um einkommenssichernde Maßnahmen erweitert werden. Wir fördern auch Schulkomitees und das Training von Lehrkräften, um die Bildung in den Gemeinden qualitativ besser zu machen. Im Bereich der Friedensförderung werden Gemeindemitglieder darin geschult, Konflikte innerhalb ihrer Gemeinschaft zu erkennen und zu lösen.
Zukünftige Maßnahmen werden sich verstärkt auf die Berufsausbildung von Jugendlichen sowie auf marktorientierte Aktivitäten konzentrieren. Wir wollen die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Geflüchteten fördern. Bildung und Ausbildung ermöglichen ihnen bessere Chancen auf Beschäftigung – sowohl im Südsudan als auch bei einer möglichen Rückkehr in ihre Heimat.
Gibt es ein Thema, das Ihrer Meinung nach bislang zu wenig Aufmerksamkeit erhalten hat?
Ganz klar die erschütternde Situation von Menschen mit Behinderungen: Sie sind in Konflikten stark von den Auswirkungen betroffen, erhalten aber nur selten die notwendige Unterstützung. Trotz ihres erhöhten Bedarfs werden kaum Mittel bereitgestellt, um ihre spezifischen humanitären Bedürfnisse zu decken. Diese besonders vulnerable Gruppe muss stärker berücksichtigt werden in der humanitären Hilfe, nicht nur aktuell im Südsudan und Sudan, sondern generell im Kontext von Krisen und Konflikten.
21.10.2024