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»Diesen Kindern wurde alles weggenommen: ihre Familien, ihr Zuhause, ihr Land.«

Interview mit Filmregisseurin Tetiana Khodakivska: Über russische Propaganda, die Erlebnisse entführter Kinder und die Traumahilfe nach der Rückkehr in die Ukraine

Seit ihrem Einmarsch begehen russische Truppen in der Ukraine Kriegsverbrechen. Eines davon hat auf schlimmste Weise Kinder und Jugendliche zum Ziel: Ihre Entführung, Indoktrination und Zwangsumerziehung in Russland. Bis heute wurden 20.000 Kinder verschleppt, aus besetzten oder zwischenzeitlich besetzten Gebieten. Das Schicksal der allermeisten ist unbekannt: Nur knapp 400 Jungen und Mädchen konnten bisher in ihre Heimat und zu ihren Familien zurückkehren. Sie berichten von Umerziehungslagern, von Propaganda, Misshandlung und Gewalt.

Die ukrainische Filmregisseurin Tetiana Khodakivska konnte mit einigen dieser Kinder ausführlich sprechen. Khodakivska koordiniert ein Projekt der psychosozialen Unterstützung und Traumahilfe, gemeinsam mit der Kinderrechtsorganisation »NGO Girls«. Mit Hilfe von Kunst und Malerei helfen Sie und ihre Mitstreitenden den zurückgekehrten Kindern dabei, mit den schrecklichen Erfahrungen der Entführung zurechtzukommen.

Nach einiger Zeit sind manche der Kinder bereit, ihre Erlebnisse in Worte zu fassen und dokumentieren zu lassen, sodass die Schilderungen u.a. vor dem Internationalen Strafgerichtshof verwendet werden können. Einige haben dazu Videos aufnehmen lassen, die Tetiana Khodakivska – mit ihrer ausdrücklichen Zustimmung – in einem Dokumentarfilm verarbeitet: »The Blue Sweater with a Yellow Hole«

Interview: Emilia Sulek
 

Tetiana Khodakivska, das Thema Kinder und Krieg zieht sich wie ein trauriger roter Faden durch Ihr berufliches Leben. Wie kam es dazu? 

Im Jahr 2012 habe ich im Drama »Angels of War« Regie geführt. Es erzählt die Geschichte ukrainischer Kinder in einem deutschen Lager während des Zweiten Weltkriegs, wo sie zu medizinischen Zwecken missbraucht wurden. Inzwischen arbeite ich an einem Dokumentarfilm, der eine ähnliche Geschichte aus der heutigen Ukraine erzählt. Tausende von ukrainischen Kindern werden von Russland deportiert, ihrer Rechte beraubt, wobei sie physische und psychische Gewalt erfahren. Das ist schockierend. Denn es bedeutet, dass sich die Geschichte wiederholt und wir nichts dabei gelernt haben.      
 

Was hätten wir daraus lernen sollen?

Wir leben nach wie vor in einer Gesellschaft, in der Kinder schutzlos Propaganda ausgesetzt sind. Kinder wissen zwar, dass sie nicht in fremde Autos steigen sollen, aber wir haben ihnen nicht beigebracht, sich gegen Manipulation zu wehren. Vielleicht hatten wir einfach nicht die Mittel dazu. Oder wir haben fälschlicherweise angenommen, dass das Propaganda-Zeitalter ein für alle Mal vorbei sei.
 

Sie sind in der ehemals kommunistischen Ukraine aufgewachsen. Haben Sie dort persönliche Erfahrung mit Propaganda aus Ihrer eigenen Kindheit gemacht?

Ja, in den 1980ern während meiner Kindheit, war die Ukraine Teil der USSR. In der Schule musste ich Gedichte über Wladimir Lenin und den Kommunismus auswendig lernen. Die kommunistische Herrschaft kostete die Hälfte meiner Familie und Millionen von Ukrainer*innen das Leben. Die damalige Zeit unterscheidet sich doch kaum von heutigen russischen Umerziehungslagern, in denen die ukrainischen Kinder die russische Nationalhymne singen müssen. Offensichtlich ist Propaganda mit dem Ende des Kalten Krieges nicht von der Erdoberfläche verschwunden, wie die in meinem Film erzählten Geschichten von Kindern auch zeigen.

Wie hat sich Propaganda seit Ihrer Kindheit verändert?

Früher war Propaganda gekennzeichnet von roten Bannern und Slogans. Die heutige Propaganda ist anders. Russland produziert Propaganda auf zahlreichen digitalen Kanälen, welche den privaten Raum der User*innen über ihre Smartphones erreicht. Künstliche Intelligenz macht es dabei einfacher als je zuvor, Parallelwelten zu erschaffen. Uninformierte User*innen können deren Echtheit kaum verifizieren. Kinder sind besonders verletzlich, wobei Erwachsene vor solchen Inhalten auch nicht gefeit sind.

»Die Kinder müssen auch tagtäglich Dankbarkeit gegenüber ihren ›Rettern‹ zeigen. Tun sie dies nicht, werden sie bestraft.«


Woher rührt Ihr Interesse an Propaganda? 

Aus dem Fernsehprojekt »Die Krim. Die Lehren aus der Geschichte« über die Besetzung der Krim durch Russland im Jahr 2014. Damals habe ich haufenweise russischen medialen Content analysiert. Die Stories erschienen mir so absurd, wie etwa die Geschichte über mit Drogen gefüllte Orangen, die angeblich während der Orangenen Revolution im Jahr 2014 auf dem Kiewer Majdan verteilt wurden. Oder die russische Fernsehsendung »Gekreuzigter Junge«, in der eine angebliche Augenzeugin behauptete, dass ukrainische Soldaten im Donbas Kinder kreuzigten. Alles um die russische Militärintervention zu rechtfertigen. Zuerst habe ich darüber gelacht, aber nach zwei, drei Wochen habe ich angefangen, an meiner Wahrnehmung zu zweifeln. Der Verstand tut sich schwer damit, all das als Lüge abzutun, und sucht nach Wahrheitsfetzen. Es war erschreckend zu merken, wie ich mir selbst nicht mehr trauen konnte.       
 

Jetzt behauptet Russland, es würde ukrainische Kinder retten.

Es ist doch paradox, Kinder zu bombardieren, um sie dann zu retten. Aber ja, Kinder zu »retten« ist Teil des russischen Kriegsnarrativs. Die Kinder, die ich interviewte, erwähnen es immer wieder. Das zeigt, wie präsent dieses Narrativ in den russischen Umerziehungscamps ist. Die Kinder müssen auch tagtäglich Dankbarkeit gegenüber ihren »Rettern« zeigen. Tun sie dies nicht, werden sie bestraft. Medusa, ein russisches Internetmedium, das aus dem Exil arbeitet, hat über einen Fall in Mariupol berichtet, bei dem Schulkinder einen Schreibtisch kaputt gemacht haben. Sie mussten sich dafür öffentlich entschuldigen. Nicht nur für den Tisch, sondern für ihre mangelnde Dankbarkeit. Diesen Kindern wurde alles weggenommen: ihre Familien, ihr Zuhause, ihr Land. Und dann sollen sie Dankbarkeit zeigen?
 

Und dann ist da noch das Durcheinander mit konfusen Informationen.

Ja, genau. Für jedes Kriegsereignis gibt es in den russischen Medien ungefähr zehn Varianten, wie es abgelaufen sein soll. Schauen wir uns als Beispiel die Belagerung von Mariupol an. Zunächst hieß es, das war gestellt, dann sollen es die Ukrainer gewesen sein, die die Stadt belagerten, dann kamen weitere Geschichten dazu. Man verliert sich in einer Wolke sich widersprechender Informationen, am Ende kann man sich nicht entscheiden, welche Version jetzt die richtige ist.
 

Und mit den Kindern, die nach Russland verschleppt werden, verhält es sich ähnlich?

Ja, es zirkulieren viele unterschiedliche Zahlen in den Medien, mal höher, mal niedriger. Die Leute wissen überhaupt nicht mehr, was sie glauben sollen, also glauben sie an gar nichts. Das ist auch die Wirkung der Propaganda. 
 

Mal geben russische Politiker*innen zu, dass 700.000 Kinder aus der Ukraine »Zuflucht« in Russland gefunden haben. Dann behauptet die russische Bundeskommissarin für Kinderrechte, Marija Lwowa-Belowa, dass nicht mal 500 Kindern in russischen Pflegefamilien untergebracht wurden. Es ist schwer, sich Zahlen vorzustellen, die weiter auseinander liegen als diese hier.

Verwirrung zu stiften ist eine Strategie.
 

Aber nicht alle Zahlen sind ausgedacht. 

Nein, über die Zahl von 19.546 (Stand vom 16. Januar 2024) deportierter Kinder sind sich die Ukraine und die UN einig. Über den Verbleib der meisten Kinder, vor allem den jüngsten, weiss man allerdings nichts. Russland gibt ihnen neue Namen und stellt ihnen neue Pässe aus. Nach neuesten Erkenntnissen des UN-Ausschusses für Kinderrechte vom Januar 2024 hat Russland über 49.000 Pässe an ukrainische Kinder ausgestellt.
 

Russlands Bundeskommissarin für Kindesrechte insistiert, dass in Russland keine ukrainischen Kinder zur Adoption freigegeben werden.

Naja, wenn ihre Staatsbürgerschaft noch vor der Adoption geändert wird, dann sind sie technisch gesehen auch keine Ukrainer*innen mehr. 

»Wegen ihres Ungehorsams wurde Kira in eine psychiatrische Klinik zwangseingeliefert, das ist eine übliche Praxis in russischen Umerziehungscamps.«


Die Medien sind auf Zahlen angewiesen. Was könnten reale Zahlen sein?

Selbst ein einziges verschlepptes Kind ist eines zu viel. Das Humanitarian Research Lab der Universität Yale hat russische Open-Source-Daten analysiert und kam zur Erkenntnis, es wurden mindestens 130.000 ukrainische Kinder nach Russland deportiert. Andere Schätzungen sind sogar noch höher. Es ist wichtig zu sagen: Nicht nur die ukrainische Regierung versucht, an die Wahrheit zu kommen, sondern auch viele unabhängige Forschungseinrichtungen. Ihre Zahlen beruhen auf realen Daten. Im Gegensatz zu denen aus dem Kreml. Dort gibt es null Transparenz.
 

Um ein einziges Kind zu retten, bedarf es eines ganzen Teams an Menschen. Bis jetzt wurden über 400 Kinder nach Hause zurückgebracht. Ihr Team hat die repatriierten Kinder in Cherson und Charkiw, in Kiew und Odessa besucht.

Ja. Wir haben über sechzig Interviews und zehn filmrelevante Zeichensessions durchgeführt. Im Film sind drei Protagonist*innen, Kira (10), Taisa (14) und Artem (15), zu sehen, aber auch andere Kinder haben zum Film beigetragen.
 

Kira, Taisa und Artem haben sechs Monate Deportation hinter sich. Was haben sie alles erlebt?

Wegen ihres Ungehorsams wurde Kira in eine psychiatrische Klinik zwangseingeliefert, das ist eine übliche Praxis in russischen Umerziehungscamps. Artem musste sich zwischen einer russischen militärischen Ausbildung und dem Strafaufenthalt in einem Isolationsraum entscheiden. Taisa hat den Titel zum Film beigesteuert. Sie war gezwungen, ihren Pullover zu zerstören, da die ukrainische Farben Blau und Gelb im Camp verboten sind. Sie alle haben unterschiedliche Formen von Gewalt erlebt. Ihre Geschichten spiegeln die von Tausenden anderer Kinder wider.
 

Wie wählen Sie die Kinder aus?

Save Ukraine, die Organisation, welche die Rettungsaktionen der deportierten Kinder koordiniert, ist in Kontakt mit den Eltern und schlägt ihnen ein Treffen mit uns vor. Das Kind und die Eltern entscheiden selbst, ob sie dafür bereit sind. Bei unseren Treffen können die Kinder das Erlebte zeichnen oder auch einfach nur reden. Einige der Kinder haben nie zuvor über ihre Erfahrungen gesprochen, sind aber bereit sie zu zeichnen. Für welches Mitteilungsmedium auch immer sie sich entscheiden, die goldene Regel ist: Wir richten uns nach den Kindern. Wenn sie Fragen haben, dann dürfen sie diese stellen. Wenn sie nicht mehr weiter machen wollen, dann hören wir jederzeit auf. Die Geschichten sind Eigentum der Kinder, wir sind nur da, um diese Geschichten zu empfangen.  
 

Aber Sie stellen Fragen?

Ja, die kommen auf natürliche Art und Weise, meistens beim Zeichnen: Wie viele Betten waren in dem Zimmer? Gab es ein Fenster? Unsere Gespräche sind kein Verhör, sie sind Prozesse, in denen sich die Kinder wieder an Dinge erinnern können.
 

Wie gestaltet sich so eine Zeichensession?

Wir beginnen mit der Vergangenheit, mit dem ursprünglichen Wohnort und dem Zuhause des Kindes. Dann begeben wir uns auf eine Zeitreise. Die zeitliche Abfolge der Geschehnisse ist aber oft konfus. Ein Camp, dann das nächste Camp, ständig neue Orte, ein Kommen und Gehen. Viele Journalist*innen verlieren da den Überblick. Das Zeichnen bringt eine gewisse Ordnung in das erlebte Chaos. Wir beenden die Gespräche immer mit etwas Positivem, einem Ausblick, einem Traum, einem Wunsch des Kindes. Das ist der grobe Gesprächsplan, aber im Endeffekt ist es ein Flow, dessen Richtung die Kinder bestimmen.
 

Wer ist bei den Treffen dabei?

Mindestens ein Elternteil und das Kind, die Sounddirektorin und der Kameramann. Der*die Künstler*in, das Kind und ich, wir zeichnen. Ich wollte das ursprünglich nicht machen, weil Zeichnen nicht zu meinen Stärken gehört. Aber, wir haben festgestellt, dass es die Kinder ermutigt: Wenn ich das kann, kann das Kind das auch. Das Kind übernimmt oft die Regie, die Kunstschaffenden werden zu Statist*innen.  
 

In Ihrem Film verwenden Sie diese Zeichnungen und auf den Zeichnungen basierte Animationen. Das war aber nicht nur eine formale Entscheidung?

Die Animation hilft uns, die Identität der Kinder zu schützen. Zusammen mit der ukrainischen Animatorin Dana Danylova entwickelten wir einen zweischichtigen Animationsstil. Dieser Stil macht deutlich, wie Identität manipuliert werden kann und wie sich Erinnerungen unter dem Druck von Propaganda, Desinformation und Gewalt verändern. So wird nicht nur veranschaulicht, was wir sonst nicht zeigen können, sondern es kommt auch näher an die Erfahrung heran. Der Betrachter kann die Auswirkungen der auf die Realität projizierten Propaganda und die dadurch entstehende Verwirrung besser nachvollziehen.
 

Welchen therapeutischen Wert haben die Zeichnungen?

Das Zeichnen hat viele Vorteile. Erstens erinnert sich das Kind während des Zeichnens an Dinge, an die es sich vorher nicht zu erinnern schien. Das Kind kann jederzeit zum früheren Teil der Zeichnung gehen, um etwas zu ergänzen. Zweitens, die Zeichnungen sind ehrlich. Es ist leicht, mit Worten zu lügen, mit Bildern klappt das nicht so. Und schließlich, wenn alles auf dem Papier steht, hat auch das Kind einen Überblick über das, was es erlebt hat.
 

Hören Sie auf, wenn Sie das Gefühl haben, die Story ist jetzt zu Ende?

Für die Kinder haben ihre Geschichten ein sehr klares Ende. Das sind Geschichten der Entführung, die abschließen, wenn das Kind zurück nach Hause kommt. Manche Stories enden allerdings in Etappen, je nach Verfassung des Kindes. Unsere Treffen sind oft sehr emotional. Es gab Momente, in denen selbst die Teammitglieder um eine Pause baten. 
 

Welches ist die größte Herausforderung?

Manche Details sind einfach schlimm. Wenn man von sexueller Gewalt gegen Kinder hört oder von Kindern, die in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden, um sie zu bestrafen, weil sie sich geweigert haben, die russische Nationalhymne zu singen oder die russische Militärausbildung zu absolvieren, ist es eine Herausforderung, einen klaren Kopf zu bewahren. Aber nicht nur das Thema, sondern auch die Umgebung ist extrem. In Cherson haben wir im Juni 2023 kurz nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms von russischen Truppen gefilmt. Die Front war nur wenige Kilometer von unserem Drehort entfernt.

»Diese Kinder werden in den Umerziehungscamps einer massiven Gehirnwäsche unterzogen.«


Wie bereiteten Sie sich auf Ihre Arbeit vor?

Das gesamte Team hat vorher ein Training absolviert, um sich auf emotional herausfordernde Interviews vorzubereiten. Wir sprachen auch mit Anwält*innen darüber, wie man mit Kindern spricht, damit ihre Aussagen als juristische Beweise verwendet werden können. Diese Kinder sind Zeugen russischer Kriegsverbrechen: Verschleppung, mentale Folter, sexueller Missbrauch, Verweigerung ärztlicher Hilfe in den Camps. Deshalb lässt Russland sie nicht gehen.
 

Haben die Treffen Ihre Annahmen in Frage gestellt?

Diese Kinder werden in den Umerziehungscamps einer massiven Gehirnwäsche unterzogen. Oft sagen sie, dass es eine glückliche Zeit war, zumindest am Anfang. Schließlich haben sie dort auch Freundschaften geschlossen, sie waren am Meer. Auf irgendeine Weise war es wohl auch eine glückliche Zeit. Die Kinder haben ein Anrecht darauf, das zu sagen. Eine solche Aussage zu akzeptieren, kann schwierig sein, weil sie die eigenen Annahmen in Frage stellt.
 

In den Medien wird oft von einer »gestohlenen Kindheit« gesprochen.

Diese Kinder haben eine Kindheit. Vielleicht mögen Patronen ihr neues Spielzeug und zerstörte Häuser ihre Spielplätze sein, aber es ist trotzdem ihre Kindheit. Es ist respektlos, den Eindruck zu vermitteln, dass jene Zeit es nicht wert ist, als Kindheit bezeichnet zu werden. 
 

Was würden Sie jenen Personen sagen, die an der Glaubwürdigkeit der Aussagen der Kinder zweifeln?

Die Geschichten bestätigen sich. Wenn mir 40 Kinder – unabhängig voneinander – von Isolationsräumen in den Camps berichten, dann kommt das nicht von ungefähr. Wenn sie allerdings etwas nicht erzählen, um ihre oder die Würde ihrer Freund*innen nicht zu verletzen, dann ist das ihr gutes Recht. Wir waren nicht in ihrer Situation, wir können darüber nicht urteilen.
 

Wer ist Teil Ihres Teams?

Das sind einige Leute und Institutionen. Es gibt eine ukrainische NGO »Girls«, die Frauen und Kinder sowie deren Familien psychologisch begleitet. Das Stigma, welches mit psychologischer Betreuung einhergeht, ist ein sowjetisches Erbe. Es ist Zeit, dass sich das ändert. Auch arbeiten wir eng mit der ukrainischen Künstlerin Alevtina Kakhidze sowie anderen Künstler*innen vor Ort zusammen. Es gibt auch noch unsere Produktionsfirma Pronto Film. Das Harriman Institute der Columbia Universität sowie das Prague Civil Society Centre unterstützen uns ebenfalls. Darüber hinaus arbeiten wir eng mit Save Ukraine zusammen. Finanziert werden wir u.a. von terre des hommes Deutschland, die sich für Kinderrechte sowie für die Sicherheit von Kindern einsetzen.      
 

Der Film ist nur ein Teil Ihres Projektes. Was ist der andere Teil?

Der andere Teil ist ein Archiv mit Zeugnissen von repatriierten Kindern. Das ist Rohmaterial, welches Ermittlungsbeauftragten, Bildungswissenschaftler*innen und weiteren Forschenden zur Verfügung steht. Dieses Archiv wird in das Ukraine-Krieg Archiv integriert, hat aber eine eigene gesicherte Identität mit einem zusätzlichen Protokoll zum Schutz von Informationen über Kinder. Wenn wir es schon nicht geschafft haben, dafür zu sorgen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt, sollten wir zumindest unsere Kräfte bündeln, akademisch, künstlerisch, investigativ und juristisch, um die Fakten zu dokumentieren, um die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen und den Kindern zu helfen, diese dramatischen Ereignisse zu verarbeiten.
 

Was können wir sonst für diese Kinder tun?

Gerettete Kinder bekommen viel Aufmerksamkeit. Aber die lässt mit der Zeit nach. Es ist wichtig, dass wir sie dann nicht fallen lassen. Wir rufen sie deshalb regelmäßig an, fragen, ob sie etwas benötigen. Einige Kinder schicken uns Tagebücher oder Zeichnungen. Man merkt, sie suchen den Kontakt. Besonders in Cherson, wo sie in völliger Isolation leben. Dort ist keine Schule offen, die Kinder können nicht raus, sehen ihre Freund*innen nicht. Zeichnen, tanzen, alles, was irgendwie den Körper involviert, hilft den Kindern, das Erlebte zu verarbeiten – auch wenn es nur online ist.
 

Bekommen die Kinder auch viel Aufmerksamkeit von den Medien?

Ja, deshalb ist rechtliche Fürsorge wichtig. Wir haben keine Narrenfreiheit mit den Daten der Kinder. Bevor wir Daten verwenden, stellen wir sicher, dass Eltern und Kinder einwilligen, ihre Namen oder Bilder zu verwenden. Nicht alle Journalist*innen tun das. Ein kürzlich erschienener Artikel verwendete Namen, Nachnamen, Alter, Wohnort und sogar Fotos der Kinder. Darüber hinaus wurden die Kinder im Artikel verunglimpft, weil sie russische Pässe annehmen mussten. Es mag sein, dass die Redaktion diese sensiblen Daten verlangt, dann muss man intervenieren und auf ethische Grundsätze pochen. Das liegt in der Verantwortung der Journalist*innen.
 

Gibt es Themen, die Sie im Film nicht ansprechen würden?

Ja, zum Beispiel sexuellen Missbrauch. Selbst wenn ich völlig anonymisiert oder in Form von Animation darüber berichten würde, wären andere Kinder in der Lage, zu identifizieren, um wen es dabei geht. Selbst wenn Eltern und Kind in einem Moment dem zustimmen würden, könnten sie in einigen Jahren ihre Meinung dazu ändern. Ich halte es für moralisch verwerflich, über solche Stories zu berichten. Wir beratschlagen uns in solchen Fällen unter anderem mit terre des hommes und treffen dann eine Entscheidung im Team.   
 

Wie weit ist der Film fortgeschritten?

Immer mehr Kinder finden ihren Weg zurück. Ihre Familien kommen auf uns zu und bitten uns um ein Treffen. Derzeit warten 20 Kinder auf Gesprächstermine. Wir versuchen, an Gelder für Forschungsreisen in die Ukraine zu kommen und suchen nach Partner*innen für die Koproduktion des Films. Wenn alles läuft, wird der Film 2025 in die Kinos kommen.
 

Die Gewalt, der die Kinder in diesen Camps ausgesetzt sind, zielt darauf ab, ihre Identität zu verändern. Sind die Kinder zurück in der Ukraine sicher?

Solange der Krieg in der Ukraine andauert, ist niemand sicher, aber die Kinder sind jetzt zu Hause. Zu sich zurückzufinden ist aber auch ein Prozess. Diese Kinder müssen viele Dinge neu bzw. wieder lernen. Ein Mädchen meinte zum Beispiel, sie müsse lernen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Im Camp war das verboten. Mit externer Unterstützung ist es einfacher für die Kinder, zu sich zurückzufinden und sich selbst zu sein. Deshalb: Vergesst diese Kinder nicht, auch wenn andere Nachrichten ihre Stories überschatten.


19.02.2024

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