Wissbegierige Mädchen, verzweifelte Frauen
Wie es Frauen in Afghanistan nach der Machtergreifung der Taliban ergeht
Sandra Fenkl und Chris Hartmann waren für Terre des Hommes im Frühjahr vor Ort - unter anderem in Kabul, Herat und Jalalabad. Es sind Städte, deren Namen wohl jeder aus den Nachrichten kennt - aus der Zeit vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021. Seitdem ist es sehr still geworden um Afghanistan.
Das Interview erschien am 14.10.24 in der NOZ (Neue Osnabrücker Zeitung) und wurde von Redakteurin Sandra Dorn geführt.
Frau Fenkl, wie war es für Sie als selbstbewusste Frau, die sich in Osnabrück auf Demonstrationen gegen Extremismus und Rassismus einsetzt, in Afghanistan unterwegs zu sein?
Fenkl: Man bereitet sich natürlich auf so eine Reise vor, man weiß, dass man sich anders benehmen muss. Aber dann dort zu sein, ist etwas anderes. Am ersten Tag noch direkt im Flughafen überreichte mir unser Projektpartner eine Tüte, darin waren ein Hijab und eine Abaja [ein Kopftuch und eine Art Überkleid, Anm. d. Red.]. Damit bin ich die nächsten zwei Wochen herumgelaufen. Schon das allein ist ein befremdliches Gefühl.
Wie würden Sie dieses Gefühl beschreiben?
Fenkl: Das ist wie ein Korsett, und damit weiß man sofort, wohin man als Frau in dieser Gesellschaft gehört, und zwar in die letzte Reihe. Man benimmt sich anders. Sofort und automatisch. Ich bin anfangs immer mit gesenktem Haupt gegangen. Und hatte permanent die Sorge, dass das Kopftuch herunterrutscht. Dabei war ich gut beschützt. Wir waren ja als Gruppe dort – mit Chris und unserem Vorstand Beat Wehrle und noch zwei Kolleginnen aus Indien, Ingrid und Gwenita. Außerdem waren unsere afghanischen Projektpartner stets an unserer Seite.
Waren Sie auch vor der erneuten Machtergreifung der Taliban schon mal in Afghanistan? Wie gravierend hat sich das Leben dort verändert?
Hartmann: Wir nicht, aber Kolleg:innen waren da. Aus Erzählungen kann ich berichten, dass es in den Städten anders war, freier. Auf dem Land war es immer schwierig und das Reisen war wegen der vielen Anschläge nahezu unmöglich. Im Land wird das durchaus positiv bewertet, aber das ist natürlich auch eine trügerische Sicherheit.
Fenkl: An jeder Ecke stehen hochbewaffnete Taliban. Unser Hotel glich einem Hochsicherheitstrakt. Man muss dort einchecken wie am Flughafen. All das stammt noch aus der Zeit der Anschläge.
Wie ist die Situation der Frauen in Afghanistan?
Fenkl: Die Frauen sitzen zu Hause. Die einzige Beschäftigung für sie ist Social Media. Ansonsten machen sie die Hausarbeit und warten darauf, dass sie verheiratet werden. Sie sind regelrecht eingesperrt. Einzelne Besorgungen dürfen sie machen, aber sie dürfen sich nicht öffentlich versammeln, sie dürfen die Parks nicht besuchen, kein Fitnessstudio, keine Bäder, kein Kino, nichts.
Hartmann: Auf den Märkten sieht man sie noch. Aber all das, was Sandra aufgezählt hat, war früher möglich, zumindest in den Städten.
Fenkl: Ich habe eine 18-Jährige erlebt, die mir erzählt hat, dass sie ihren Schulabschluss gemacht hat und sich auf die Uni vorbereitete, und dann kamen die Taliban. Jede Hoffnung, jeder Traum war damit sofort gestorben. Die Frauen sind extrem enttäuscht, sind hoffnungslos, depressiv. Es gibt viele, die Selbstmordgedanken haben.
Wie sieht es mit Hoffnung vor Ort aus?
Fenkl: Es gibt auch Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen wollen. Die hoffen, dass sich die Situation eines Tages doch etwas bessert. Wir waren in einem Museum, in dem Fotografieren verboten war: Und da hat eine Frau heimlich ein Foto gemacht und mir gegenüber triumphiert: »Ich habe das Recht gebrochen!« Dass solche kleinen Gesten des »Widerstandes« so viel bedeuten, ist schon bezeichnend.
Wie geht es den Kindern in Afghanistan?
Fenkl: Es gibt Kinderarbeit und Kinderheirat. Mädchen werden mit neun, zehn Jahren einem Mann versprochen, der deutlich älter sein kann. Mit 14, 15 werden sie verheiratet. Dann herrschen der Ehemann und die Schwiegermutter über das jungvermählte Mädchen, oft mit harter Hand. Es ist schwer zu begreifen, wie wenig Solidarität manchmal unter den Frauen herrscht.
Hartmann: Der Tag von Kindern im Grundschulalter sieht oft so aus: Morgens besuchen sie die Koranschule, dann gegebenenfalls andere Schulklassen und dann müssen sie arbeiten: Schuhe putzen, Müll sammeln, viele werden zum Betteln geschickt. Erst am Abend bekommen sie etwas Richtiges zu essen.
Welche Arbeit ist für Terre des Hommes in Afghanistan nun überhaupt noch möglich?
Hartmann: Wir haben alle Partner von der Zeit vor der Machtübernahme beibehalten können und arbeiten auch an den Projekten weiter, die wir vorher hatten, mussten sie aber anpassen. Wir hatten viele Klassen, wo wir zum Beispiel Mädchen und junge Frauen mit Förderunterricht unterstützt haben, um die Zugangsprüfung zur Universität zu schaffen. Das ist leider unmöglich geworden. Die Bildung ist für Mädchen nur noch bis zur sechsten Klasse möglich.
Was macht Terre des Hommes stattdessen?
Hartmann: Unsere Partner bieten zum Beispiel Förderklassen zur Einschulung an und Projekte für Straßenkinder. Für Ältere haben wir jetzt noch die Möglichkeit, etwas zur beruflichen Ausbildung und Alphabetisierung zu machen, auch zum Thema Ernährungssicherheit. Insbesondere die Maßnahmen zur Berufsausbildung sind förderlich, da sie die ökonomische Situation der Haushalte verbessern.
Fenkl: Sozialarbeiterinnen dürfen noch ins Feld und sich mit den Frauen austauschen. Diese psychosoziale Arbeit ist sehr wichtig. Es gibt vieles, was die Frauen belastet. Der Austausch unter Gleichgesinnten gibt ihnen Kraft.
Welche Berufe dürfen Frauen in Afghanistan überhaupt noch ausüben?
Hartmann: Näharbeiten, Stickereien, Weben, Kochen - also grundsätzlich alles, was sie zu Hause machen können.
Fenkl: Übrigens waren alle Männer, die wir gefragt haben, mit den strengen Vorgaben der Taliban nicht einverstanden, weil sie sehen, wie ihre Frauen, Schwestern und Töchter leiden. Auch fehlt das Einkommen der Frauen. Die Männer müssen nun oft allein für die Familie sorgen. Das belastet sie, und auch bei den Männern kommt es häufiger zum Suizid.
Hartmann: Wir haben mit Studienabsolventen gesprochen, die jetzt lernen, wie sie Handys reparieren können. Die Arbeitslosigkeit ist extrem hoch, die Perspektivlosigkeit auch.
Was hat Sie am meisten bewegt auf Ihrer Reise?
Fenkl: In kaum einem anderen Land der Welt sind die Rechte der Frauen so beschränkt wie in Afghanistan, dort existiert Gender-Apartheit. Wir haben viele Mädchenklassen besucht. Die Mädchen sind wahnsinnig wissbegierig und aufgeweckt, sie tragen prachtvolle, bunte Kleidung: Es ist das pralle Leben. Aber was wird aus diesen Mädchen? Diese Neugier, dieses Streben und die Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben werden zunichte gemacht - das lässt einen nicht los. Ich habe noch immer Kontakt zu einigen afghanischen Frauen, aber was bleibt mir mehr als tröstende und aufbauende Worte? Unsere Partnerorganisationen in Afghanistan haben mich übrigens stark beeindruckt mit ihrem unbedingten Willen, Mädchen und Frauen zu helfen - dieser Wille gegen jeden Widerstand immer weiterzumachen, ist mir Vorbild.
Hartmann: Am meisten beeindruckt haben mich das Potenzial, der Wille und die Resilienz der Menschen dort. Es ist so wichtig, dass dieses Land nicht vergessen wird. Wir und unsere Partnerorganisationen wollen die Frauen und KInder nicht allein lassen und versuchen größtmögliche Handlungsspielräume mit den lokalen Autoritäten auszuhandeln, um sie weiterhin unterstützen zu können.
Sandra Fenkl ist Philologin, 55 Jahre alt und seit 25 Jahren bei Terre des Hommes, wo sie als Referentin Fundraising arbeitet. Chris Hartmann ist 49. Der Geograf ist bei Terre des Hommes Referent für humanitäre Hilfe.