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»Ich hatte den Drang, etwas zu tun«

Die Studentin Hai Ha war während des Erbebens in Nepal und engagierte sich gemeinsam mit den örtlichen terre des hommes-Partnern bei der Soforthilfe.

»Ich möchte nichts mehr trinken und nichts mehr essen. Meine Frau ist unter den Trümmern unseres Hauses begraben«, erzählt ein Bewohner im Ort Lambu Dada. Der Einsturz hat nicht nur zehn weitere Personen in den Tod gerissen, sondern den Menschen auch zum Teil ihre Lebensgrundlage, ihr Vieh, genommen. Lambu Dada ist ein Bergdorf in Sankhu. Die Bewohnerinnen und Bewohner, die der Ethnie der Tamang angehören, fühlen sich allein gelassen und hilflos. Anstatt zur Schule zu gehen oder zu spielen, sitzen die Kinder irritiert und eingeschüchtert auf den Trümmern. Niemand begreift, wie schnell 50 Sekunden das Leben auf den Kopf stellen können.

Ein Praktikum hatte mich nach Kathmandu verschlagen. Drei Monate sollte ich Nepal kennen und lieben lernen. Mein letztes Wochenende in Nepal wollte ich mit Freunden in der von Kathmandu 142 Kilometer entfernten Stadt Pokhara verbringen. Während wir durch die Newari-Altstadt schlenderten, stoppte uns ein Freund. »Halt! Merkt ihr das nicht? Das ist ein Erdbeben!«, rief er merklich aufgeregt. Erst dann bemerkte ich die Menschen, die aufgewühlt auf die Straßen rannten und sich aneinander festklammerten. Dass dieses Erdbeben kein gewöhnliches war und über 8.600 Menschen in den Tod reißen würde, war uns zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Im Hotel angekommen, erreichten mich die vielen Nachrichten von zu Hause und vor allem von meinen Kollegen und Freunden vor Ort. Bilder aus den Medien ließen mich nicht mehr los! Gorkha, Bhaktapur, Basantapur oder den Patan Durbar Square in Kathmandu sollte es alles nicht mehr geben! Wie konnte das möglich sein? Schnell versuchte ich, meine Freunde zu erreichen. Aufgrund der Netzüberlastung konnte ich viele tagelang nicht erreichen! Wie in einer Endlosschleife rissen uns die Nachbeben aus unserem Schlaf. Nervös verfolgten wir die im Sekundentakt aufkommenden Nachrichten.

Nachdem das verheerende Ausmaß des Erdbebens sich verdeutlichte, war mir klar: Ich muss zurück nach Kathmandu! Dort musste ich vorerst große Überredungsarbeit bei meiner Familie und bei meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen leisten, die mir aufgrund der möglichen bevorstehenden Cholera-Epidemie, Nahrungsmittel- und Wasserknappheit davon abrieten, im Land zu bleiben. Da ich wusste, dass terre des hommes in Nepal Nothilfe leistete, wandte ich mich an das Büro in Kathmandu. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als Moni Shresta von terre des hommes mir am Telefon mitteilte hat: »Ja, du kannst unser Team gern hier vor Ort unterstützen. Schließe dich gleich morgen unserer Partnerorganisation We for change an.« Für diese Möglichkeit bin ich terre des hommes noch heute überaus dankbar. 

Acht Millionen Menschen, darunter 1,7 Millionen Kinder, sind von dem schweren Erdbeben der Stärke 7,8 vom 25. April 2015 betroffen. Ca. 500.000 Häuser, 7.500 Schulen und 1.100 Gesundheitszentren sind vollkommen zerstört. Besonders die Dörfer in den Regionen Sindhupalchowk, Gorkha, Nuwakot, Dolakha sind massiv vom Erdbeben betroffen. Zahlreiche Weltkulturerbe-Stätten wurden teilweise bis vollständig zerstört. Statt normales Stadtgedrängel durchzog eine ungewöhnliche Stille die Stadt. Dicht aneinandergedrängt schlugen die Menschen an jeder freien Stelle ihre temporären Zelte auf. Die Nepalesen, die ihr Zuhause nicht verloren haben, versammelten sich entweder auch auf Großflächen oder stellten ihren Garten für Nachbarn, Bedürftige zur Verfügung. Niemand wollte zu dieser Zeit alleine sein.

Die Bilder gingen durch die Welt. Schnell wurden von allen Teilen der Welt Hilfsversprechen an Nepal zugesagt, ob diese wirklich ankommen, ist noch ungewiss. Internationale Spezialtruppen wurden entsandt, Hilfsgüter eingeflogen. Kathmandu wurde zum Treffpunkt zahlloser Hilfsorganisationen und Freiwilligen und ich war mittendrin. Nachdem jeder sich vergewisserte, wie es der Familie und den Freunden geht, machte sich spürbar der Drang breit, etwas zu tun, so dass sich viele einzelne Freiwilligengruppen bildeten, die privat Hilfsgüter sammelten und an betroffene Orte verteilten. Da vor allem zu Beginn wenig koordiniert wurde, wurden Hilfsgüter »wahllos« an leicht erreichbare Gemeinden verteilt. Es schien, dass selbst internationale Hilfsorganisationen den einfachen Weg gingen, indem sie leicht erreichbare Dörfer ansteuerten, ohne sich untereinander abzustimmen. Sprachbarrieren und fehlendes Know-how bremsten ebenso eine schnelle, effiziente und nachhaltige Hilfe. Um jedoch dem Land und den Menschen nachhaltig zu helfen, muss die Hilfe langfristig ausgerichtet sein und auf entsprechenden Daten aufbauen. Diesen Ansatz verfolgen auch terre des hommes und deren nepalesische Partnerorganisation We for change, die die Strukturen und Gewohnheiten des Landes kennen. Monika Chaulagain, Präsidentin von ‘We’ for change weiß, dass es um mehr geht als nur um Nothilfe:  »‘We’ for Change leistet nicht nur Nothilfe. Sie setzt sich vor allem für die Menschen ein. Ich bin stolz, sagen zu können, dass ‘We’ for change mit Hilfe Hunderter junger und motivierter Menschen die Idee verfolgt, Lambu Dada langfristig zu einer vorbildlichen Gemeinde aufzubauen, in der die Menschen sich in Krisenzeiten schnell wieder sammeln können.«  We for change ist die erste und einzige nepalesische Jugendorganisation, die vollständig von 16- bis 24-Jährigen geleitet wird und die über Themen wie ökologische Nachhaltigkeit und Gesundheit die Entwicklung der nepalesischen Jugend vorantreibt. We for change ist eine Organisation von Jugendlichen für Jugendliche.

Was 50 Sekunden anrichten können, wurde mir erst bewusst, als wir in den nächsten Wochen in den am schwersten betroffenen Gegenden unterwegs waren. Zu Beginn konzentrierten wir uns auf die Not- und Überlebenshilfe. In Gesprächsrunden erfassten wir die Bedürfnisse der Bevölkerung  und versorgten Lambu Dada und Sindhupalchowk darauf basierend mit Nahrungsmitteln, Medizin, Plastikplanen und Hygieneartikel. Lambu Dada ist im Unterschied zu anderen Gemeinden Sankhus nicht einfach mit dem Auto zu erreichen. Anderthalb Stunden mit dem Bus und anderthalb Stunden Fußweg müssen wir jedes Mal bewältigen, bevor wir die 68 Familien erreichen. Tief enttäuscht und verletzt erzählten sie uns ihre Geschichten. Mehr als 80 Prozent der Häuser sind zerstört, Hilfsgüter seien bei den Bewohnern aber noch nicht angekommen, niemand hätte sich jemals mit ihnen zusammengesetzt, um über ihre Probleme und Nöte zu sprechen. »Ich hätte nie gedacht, dass wir einmal Opfer einer so unglaublichen Katstrophe sein werden. Aber ihr habt uns geholfen, euch Zeit für uns genommen und uns Mut gegeben«, ermuntert uns ein Jugendlicher aus Lambu Dada. Das gab uns Vertrauen in unsere Arbeit! Ähnliches erzählten uns die Bewohner der Gemeinde Dhola. Während wir jedoch die prekäre Lage in Rasuwa und Dhading untersuchten, bewegte sich die Erde erneut stark unter uns. Eingeschüchtert von den schepperten Töpfen und klirrenden Gläsern, rannten die Menschen auf die nächste freie Fläche und holten ihr Vieh aus den Ställen. Niemand wusste, ob die Wände dem Erdbeben erneut standhalten konnten.

Statt weiter nach Gorkha zu fahren, kehrten wir wieder zurück nach Kathmandu. Erneut waren die Netze überlastet, erneut war ich im Ungewissen, was mit meinen Freunden und Kollegen geschehen ist. Während ich durch Kathmandu fuhr, schaute ich in die erschöpften und verzweifelten Augen der Menschen. Tausende hatten ihre Angehörigen, ihr Zuhause verloren und lebten jetzt in provisorisch aufgestellten Zelten, die vor dem Monsun nicht genügend schützen können. Ich konnte regelrecht spüren, wie ausgezehrt die Menschen waren, wie sehr das Beben sie an ihre Grenzen gebracht hat. Viele trauten sich noch immer nicht ins Obergeschoss des Hauses, schreckten bei jedem Anschein von Nachbeben zusammen. Selbst Helferinnen und Helfer sind merklich mit ihren Kräften am Ende. Es schien, als würde das zweite große Nachbeben vom 12. Mai mit der Stärke 7,3 die Menschen wieder zurückwerfen.

Mir ist dabei bewusst geworden, wie schwierig die Erfolgsmessung in Krisensituationen ist. Jeden Tag wurde ich mit dem Ausmaß des Erdbebens konfrontiert, weshalb ich das Gefühl nicht loswurde, dass unsere Anstrengungen nicht ausreichten und dass wir den Menschen nicht schnell und umfassend genug helfen konnten. Denn besonders nach der Phase der Nothilfe wird einem die Breite der bevorstehenden Arbeit erst richtig bewusst: Notunterkünfte müssen für die Monsunzeit aufgebaut werden, Menschen, besonders Kinder, müssen psychologisch betreut und zerstörte Häuser wieder aufgebaut werden. Aber der Wiederaufbau braucht seine Zeit! Dabei hatten wir noch Glück im Unglück. Wäre das erste schwere Erdbeben an einem Wochentag gewesen, hätte es weitere Tausende Kinder in den Tod gerissen. Während wir uns mit den Kindern beschäftigten, wurde uns klar, dass so schnell wie möglich provisorische Schulen aufgestellt werden mussten. Traumatisiert von den Ereignissen, sind die Kinder den ganzen Tag den Folgen des Erdbebens ausgesetzt. Aus diesem Grund entschieden wir uns dafür, in Lambu Dada ein Sportfest zu organisieren und abends für 151 Kinder zu kochen. ‚We‘ for change-Programmkoordinator Nishchal Kharal war von unserer Arbeit überzeugt: »Die Nothilfe- und Wiederaufbaubemühungen unterscheiden sich sehr von unserer vorherigen Arbeit. Als Programmdirektor habe ich die wundervolle Chance bekommen, Hunderte Freiwillige für die Hilfe für die Erdbebenopfer zu mobilisieren. Gemeinsam haben wir bisher schon sehr viel erreicht.«

In den nächsten Jahren will terre des hommes die Hilfe ausbauen. Konkret sollen unter anderem Notunterkünfte sichergestellt und Kinderschutzzentren aufgebaut, Sport und Bildungsprogramme für Kinder konzipiert und Schuluniformen und Materialien verteilt werden. Unsere Kinderschutzzentren liegen uns sehr am Herzen. Sie geben den Kindern Raum zum Spielen und Lernen. Besonders unser Sportfest hat uns die eindrucksvolle Wirkung auf Kinder vor Augen geführt. Zu sehen, dass sie wieder einen Grund zum Lachen haben und die Konsequenzen des Erdbebens für einen Moment vergessen, brachte auch uns ein wenig Hoffnung und das Gefühl, dass unsere Hilfe nicht umsonst ist. 

25.06.2015