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Wohin?

Den 18. Juni 2014 vergisst Fatima* (26) nie. An diesem Tag kam der IS in die irakische Stadt Baidschi. Sie floh mit ihrer Familie nach Kirkuk im Nordirak. Ein Programm des Instituts für Auslandsbeziehungen ermöglichte Fatima diesen Herbst ein Praktikum in Deutschland: Drei Monate arbeitete die mutige junge Frau bei terre des hommes in Osnabrück. Hier erzählt sie ihre beeindruckende Geschichte.

Ich bin in Baidschi aufgewachsen. Die Stadt hat 60.000 Einwohner und liegt in der Nähe der größten Ölraffinerie des Irak. Mein Vater arbeitete dort viele Jahre und ich fand 2011, nach meinem Chemie-Studium, eine Anstellung. Ich habe drei Schwestern. Ich bin die Älteste. Die Zweitälteste studiert in den USA, die Dritte ist Agraringenieurin, die Jüngste ist Krankenschwester. Am 10. Juni 2014 kam der Islamische Staat und kesselte Baidschi ein. Ich erinnere mich genau. Ich musste aufhören zu arbeiten. Wir blieben alle zuhause. Wir hatten Angst und ich sagte meinem Vater: Wir müssen gehen. Aber er sagte: Es wird nichts passieren, denn die irakische Armee ist in der Raffinerie. Sie werden uns verteidigen.

Die Flucht

Am 18. Juni hörte ich um zwei Uhr nachts Schüsse. Es wurden immer mehr und sie wurden immer lauter. Ich konnte nicht schlafen. Um 7 Uhr morgens sagte ich meiner Familie: Wir müssen jetzt gehen. Wir riefen die Nachbarn an und sie sagten: Wir können nicht raus, überall wird geschossen. Das ganze Haus wackelte und Fenster zerbrachen. Wir hatten Angst. Auch weil wir Schiiten sind. Für ISIS sind Schiiten Ungläubige, und wenn sie uns finden, werden sie uns töten. Die Männer müssen sterben und die Frauen müssen verkauft werden. Wir hatten also viel Angst, denn dass wir Schiiten sind, kann man an unseren Namen erkennen.

Um 4 Uhr nachmittags riefen uns unsere Nachbarn an und sagten: Wir müssen alle zusammen fliehen. Sie wollten uns in die Mitte nehmen, damit wir unter ihnen nicht auffallen. Es gab keine Zeit zum Nachdenken. Wir ließen alles zurück. Das Geld, Dokumente. Wir bedeckten unsere Gesichter, denn ISIS will das. Es war schwer, aus der Stadt herauszukommen. ISIS war zwischen den Häusern und den Autos und die irakische Armee schoss. Mein Vater ist gelähmt, er sitzt im Rollstuhl. Wir mussten ihn tragen. Meine Mutter fuhr das Auto. Das machte uns Angst, denn ISIS meint, Frauen sollten niemals ein Auto fahren. Ein Militärflugzeug versuchte, auf die ISIS-Leute zu schießen, aber sie versteckten sich unter den Familien. Das irakische Militär schoss und warf Bomben. Aus Versehen zerstörten sie ein Haus. Die ganze Familie musste sterben. Wir weinten und schrien. Ich werde diesen Tag nie vergessen. Wir fuhren einen Schleichweg, um aus der Stadt herauszukommen, und kamen an einen Ort, wo mein Vater einen Freund hat. Dort blieben wir eine Nacht. Wir hofften, dass die Stadt sich beruhigt und die Lage sich klärt, dass ISIS vielleicht vertrieben wird. Aber sie wurden nicht vertrieben. Sie brannten einige Häuser nieder. Und die Schießereien gingen weiter. Die Situation wurde schlimmer und schlimmer. Wir beschlossen nach Kirkuk zu fahren. Aber auf dem Weg gab es drei Checkpoints des IS.  Mein Vater grüßte freundlich. Aber sie standen auf, einer bedeckte sein Gesicht und legte das Gewehr auf unser Auto an. Das war der schrecklichste Moment in meinem Leben. Ich dachte, sie würden unsere Mutter töten und uns verkaufen. Sie schossen aber nicht. Wir hatten Glück. Wir kamen bis nach Kirkuk.

Keine Arbeit für Flüchtlinge

In Kirkuk fragten uns die kurdischen Milizen, wer wir sind und wo wir herkommen. Wir sagten, wir kommen aus Bagdad und wir wollen nach Erbil, denn wir haben dort einen Arzttermin. Wenn wir die Wahrheit gesagt hätten, hätten sie uns nicht hereingelassen. Sie wollen keine Flüchtlinge in Kirkuk. Sie denken, vielleicht arbeiten die mit ISIS zusammen. Wir konnten bei Freunden in Kirkuk bleiben. Aber wir hatten einen großen Schock. Ich konnte drei Wochen lang nicht schlafen. Ich war sehr müde, aber ich konnte nicht schlafen. Ich wollte auch nicht schlafen, denn sobald ich einschlief, sah ich ISIS im Traum. Ich weinte den ganzen Tag. Wir hatten kein Geld. Wir kamen auch nicht an das Geld auf der Bank, denn wir hatten alle unsere Dokumente im Haus gelassen. Zuerst konnten wir auch nicht telefonieren, die Leitung funktionierte nicht. Später erreichten wir einen Onkel und er schickte uns Geld. Gehalt bekamen wir zunächst nicht, erst nach drei Monaten erhielt mein Vater 50 Prozent seines Lohns, weil er schon sehr viele Jahre in der Baidschi-Raffinerie gearbeitet hatte. Mit dem Geld konnten wir ein Haus mieten. Ich nahm Kontakt auf mit dem Ölministerium, denn ich wollte arbeiten. Und ich habe das Recht dazu. Das Ölministerium bestätigte das, aber die Niederlassung in Kirkuk lehnte mich ab, weil ich nicht von hier bin. Ich bin keine Kurdin, also sollte ich auch keine Arbeit bekommen.  

Der Anruf

Nach einigen Monaten bekam ich einen Anruf von einem IS-Kämpfer. Er sagte, er habe meinen Laptop und verschiedene Dinge von mir. Meine Telefonnummer hatte er aus dem Handy-Vertrag. Er sagte, wir seien Ungläubige. Du und deine Familie müssen sterben, aber wir vergessen das, wenn du ISIS hilfst, an das Öl zu kommen. Er wusste, dass ich in der Ölbranche arbeite, denn er hatte offenbar meine Mitarbeiterkarte gefunden. Ich fühlte mich schlecht. Ich wusste, dass er alles über mich weiß, denn ich hatte meine Papiere im Laptop eingescannt. Er sagte, wenn du uns nicht hilfst, an das Öl zu kommen, dann hast du die Möglichkeit 10.000 US-Dollar zu zahlen. Morgen sind es schon 15.000. Ich sagte, ich habe kein Geld, aber er bestand darauf. Ich erzählte dem irakischen Sicherheitsdienst von dem Anruf und sie sagten, ich solle weiter mit ihm reden, damit sie herausbekommen, wo er ist. Bei einem weiteren Anruf sagte er: Wenn du nicht bezahlst, musst du einen IS-Kämpfer heiraten. Du hast eine Schwester, sie hat große Augen und ist hübsch. Wir wollen sie. Ich sagte, wir sind alle verheiratet. Er sagte, er kann ein Auto schicken und er würde uns nach Mossul bringen, wo Frieden ist und glückliches Leben. Du kannst dort alles haben. Ich zitterte, aber ich versuchte, ihm das nicht zu zeigen. Dann rief er nicht mehr an. Der Sicherheitsdienst sagte, er hätte hauptsächlich aus Mossul angerufen und manchmal aus Bagdad. Nach drei Monaten rief er wieder an und sagte: Ich habe dich gewarnt. Du solltest dem Sicherheitsdienst nichts sagen. Eines Tages werden wir dich bekommen. Das war der letzte Anruf.

Über drei Millionen intern Vertriebene

In Kirkuk begann ich, mich ehrenamtlich für Frieden und Gleichberechtigung zu engagieren. Und ich unterstützte die Binnenvertriebenen in den Camps. Wir verteilten Obst, Süßigkeiten und Vitamine für die kleinen Kinder. Im Irak gibt es über drei Millionen intern Vertriebene. Sie sind vor allem in Kurdistan, also in Erbil, Dohuk, Suleymania und in Kirkuk. Dazu kommen die Flüchtlinge aus Syrien. Im November 2015 fand ich eine Anstellung bei Handicap International. Ich transportierte Behinderte aus den Camps in die Reha-Zentren. Ich half den Kindern und ich arbeitete mit einem Physiotherapeuten zusammen. Ab Mai 2016 war ich zuständig für die Koordination mit anderen NGOs (Nichtregierungsorganisationen), die in den Camps arbeiten. Da lernte ich auch terre des hommes kennen. Ich fühlte mich wie der glücklichste Mensch auf der Erde. Denn ich arbeitete in einem wirklich sehr wichtigen Job. Menschen helfen, Kindern helfen, sie zum Lächeln bringen, das ist wunderbar. Ich bin sehr glücklich, wenn ich mit Kindern arbeite. Einige konnten nicht in ein Krankenhaus. Denn sie haben kein Geld. Und sie haben keine Papiere. Sie sind vollkommen abhängig von dem, was NGOs tun. Am 1. August konnte ich dann das Praktikum bei terre des hommes in Osnabrück beginnen. Es ist ein Programm des Instituts für Auslandsbeziehungen, gefördert vom Auswärtigen Amt. terre des hommes war meine Gastorganisation. Ich habe viel gelernt und bin so dankbar. Es ist eine sehr wichtige Arbeit, denn gerade Kinder brauchen immer Unterstützung. Überall auf der Welt. Aber jetzt vor allem im Irak. Die Kinder haben keine Bildung. Viele gehen nicht zur Schule, denn sie sind Flüchtlinge oder interne Vertriebene. Und es gibt viel Gewalt gegen Kinder. In den Schulen im kurdischen Teil von Irak wird oft nur kurdisch gesprochen. Die Schulen für Araber sind völlig überfüllt. Denn es gibt in Kirkuk viele Araber. Dazu kommen Flüchtlinge und interne Vertriebe. Es sind zu viele, das Kind kann dort nichts lernen. Und es gibt kein Geld, um die Kinder vom Land in die Stadt zu bringen. Der Bus kostet Geld, das haben die Flüchtlinge nicht. In den Camps gibt es manchmal Unterricht im Zelt, einige Kinder gehen dahin, andere nicht.

Zwangsverheiratung von Mädchen

Vor allem die Mädchen gehen oft nicht zur Schule. Sie leiden sehr im Irak. Sie werden zwangsverheiratet, geschlagen, beleidigt und wie Diener behandelt. Das Mädchen hat im Irak keinerlei Rechte. Und niemand unterstützt es. Deshalb möchte ich etwas für die Mädchen tun. Sie schützen. Vor der Gewalt. Manchmal sind die Mädchen erst zwölf Jahre alt, wenn sie verheiratet werden. Andere sind 14 oder 16. Jeder Clan hat seine eigenen Gesetze. Auch die Regierung kann gegen diese Clan-Gesetze nichts tun. Bei vielen ist es so, dass Verbrecher nicht bestraft werden, sondern man nimmt zum Beispiel die Schwester als Dienerin oder Ehefrau. Seine Strafe ist, dass er seine Schwester hergeben muss. Oder manchmal auch die Cousine. In Basra sind einmal über 90 Frauen zwangsverheiratet worden als Strafe für einen Clan. Die Frauen waren das Geschenk für die Männer des anderen Clans. Zwangsverheiratung und Gewalt gegen Frauen ist im Irak sehr häufig. Die Frauen leiden unter Schlägen und unter Beleidigungen. Für Frauen ist es sehr hart, dort zu leben. Meine Familie ist eine Ausnahme. Weil wir nicht dort leben, wo der Rest der Familie lebt, haben wir es leichter. Meine Verwandtschaft ist sehr wütend geworden, als meine Schwester in die USA gegangen ist. Vor allem, als sie ihr Kopftuch ablegte. Sie sagen, sie ist eine Ungläubige geworden.

Die Macht des Familienclans

Mein Vater leidet. Seine Brüder denken, er sei schwach. Er sitzt im Rollstuhl und er hat nur vier Töchter. Und die hat er nicht unter Kontrolle. Mein Vater ist glücklich mit uns, aber er kann das nicht sagen. Er möchte nicht, dass die anderen schlecht über ihn reden. Meine Mutter unterstützt uns sehr. Denn sie litt unter ihrer Familie. Sie hat sechs Brüder. Sie haben sie oft erniedrigt. Deshalb möchte sie, dass wir stark sind. Sie konnte nicht studieren wegen ihrer Brüder. Sie schlugen sie und sie musste immer nur im Haushalt schuften. Sie wurde gezwungen zu heiraten. Und sie sagt: Du sollst nicht so leiden, wie ich. Auch meine Tanten denken so. Die Frauen im Irak leiden sehr. Und auch die Flüchtlingsfrauen hier in Deutschland haben Angst. Ich traf viele von ihnen und nach einiger Zeit erzählten sie mir, was los ist: Sie werden geschlagen, aber sie wollen das nicht erzählen, denn sie haben Angst um die Kinder. Und sie wollen nicht, dass der Mann sich scheiden lässt. Ich habe hier mit Partnerorganisationen von terre des hommes gearbeitet, die Flüchtlingen in Deutschland helfen. So habe ich viele kennengelernt. Eine Frau erzählte mir, ihr Mann habe sie mit einer Glasflasche geschlagen. Sie ist schwanger. Und er schlug sie so, dass sie blutete. Er betrügt sie und sie hat sich darüber beklagt. Da wurde er wütend und sagte: So redest du nicht mit mir. Ich bin der Mann und du bist nur eine Frau. Hier in Deutschland habe ich keine Angst gehabt. Ich bin allein rausgegangen und niemand hat mich komisch angeguckt. Ich kann machen was ich will. Das ist wunderbar. Meine Tante sagt, wenn du so weitermachst, wird kein Mann dich wollen. Ich sage: Das ist gut so! Einen Mann, der über mich bestimmen will, brauche ich nicht. Meine Tante sagt: Du bist verrückt.

Heimkehr in verminte Häuser?

Die Situation in Kirkuk ist zurzeit sehr schwierig. Wir Araber werden weggeschickt, weil die kurdische Regierung des Nordirak Kirkuk als Teil ihres Terrains haben will. Sie wollen sagen können: Kirkuk ist kurdisch. Hier gibt es keine Araber. Deshalb versuchen sie, auch alle intern Vertriebenen aus Kirkuk zu vertreiben. Auch meine Familie. Sie sollen zurück in ihre Heimat. Aber es geht nicht: ISIS hat alles vermint. Die Türen, die Tische. Wenn du deine Haustür aufmachst, kann alles explodieren. Der Türgriff ist mit einem Draht an einen Kanister mit TNT oder anderen explosiven Stoffen gebunden. ISIS will so viele Menschen wie möglich töten. Aber die kurdische Regierung scheint das nicht zu interessieren. Die Geflüchteten sollen einfach nach Hause gehen. Es gibt Flüchtlinge aus Mossul, die an der Grenze zu Kirkuk festsitzen. Die kurdische Regierung lässt sie nicht herein. Sie denken, sie gehören zu ISIS. Aber es sind Zivilisten aus Mossul. Sie konnten nicht fliehen, als ISIS die Stadt eingenommen hat. Wenn man sie jetzt aber zurückschickt, wird ISIS sie töten. Hunderte von Menschen sitzen zwischen Kirkuk und Mossul ohne Essen, ohne Dach über dem Kopf.    

* Name geändert

15.11.2016, aufgezeichnet und übersetzt von Iris Stolz

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