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Hoffnung Europa

Im sizilianischen Ragusa kümmert sich terre des hommes um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge

Jabril sieht man nicht mehr an, was er hinter sich hat: Der Durst und der Hunger, die schwere Arbeit in den libyschen Steinbrüchen, die Nächte unter freiem Himmel und die Angst auf dem Boot, das ihn über das Mittelmeer nach Sizilien brachte, sind Vergangenheit. Der 17-Jährige aus Gambia kann nun in Worte fassen, was er erlebt hat. Seine Gefühle sind nicht mehr eingefroren, sein Blick ist neugierig und offen. Er lächelt.

Das war nicht immer so. Als Jabril vor vier Monaten in der kleinen sizilianischen Provinz Ragusa ankam, war er verschlossen wie die meisten anderen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die hier im Casa delle Cultura in der kleinen Stadt Scicli beherbergt  werden: Er war misstrauisch und verängstigt. Wer seine Geschichte hört, weiß warum.

Die Zeit in Libyen sei die Hölle gewesen, erzählt er: »Ich wurde nicht wie ein Mensch behandelt, sondern wie ein Tier. Ich musste auf dem Boden schlafen und bekam meinen Lohn oft nicht ausgezahlt.« Jeden Morgen ging Jabril in aller Frühe zu einem Platz, an dem sich die Flüchtlinge sammelten. Sie warteten auf die Männer, die sich hier Tagelöhner aussuchten. »Wir haben alles gemacht«, erzählt Jabril. »Aber die meiste Arbeit gab es in den Steinbrüchen. Manchmal wurden wir abends bezahlt, manchmal auch nicht. Wir konnten dann nichts dagegen tun. Es gab keinen Ort, an dem wir uns beschweren konnten.«  Bis er das Geld für die Fahrt über das Mittelmeer zusammenhatte, dauerte es mehrere Monate. In dieser Zeit hat Jabril oft bereut, seine Heimat verlassen zu haben – trotz aller Probleme, die er dort hatte.

Hoffnungsträger der Familien

Die etwa 35 Jugendlichen im Casa delle Cultura kommen vor allem aus Westafrika, dem Horn von Afrika, Nordafrika, Syrien, Bangladesch, Pakistan oder Afghanistan. Viele haben sich auf den Weg gemacht, um Kriegen, bewaffneten Konflikten, Diktaturen oder familiären Problemen zu entkommen. Andere sehen in ihrem Heimatland schlicht keinerlei Zukunftsperspektive. Oft sind sie die Hoffnungsträger ihrer Familien, denn einmal in Europa, so glauben manche Menschen in Afrika, sei es nicht mehr schwer an Geld zu kommen. Viele Jugendliche stehen unter enormem Druck.

»Sie fühlen sich verantwortlich für ihre Familie«, sagt Marianna, die Psychologin im terre des hommes-Projekt. »Sie müssen die Schulden bezahlen, die sie für die Reise aufgenommen haben, und sie wollen die Erwartungen erfüllen, die in sie gesetzt werden.«

Marianna möchte, dass die Jugendlichen wieder lernen, ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken: »Sie sind eingefroren. Die Erfahrungen auf der Reise, die Trennung von der Familie und häufig auch der Druck der Angehörigen sind zu hart.« Mit kleinen Karten, auf denen Zeichnungen die Bandbreite der Emotionen darstellen, können die Kinder ihre Gefühle erkennen und einordnen. Immer wieder fällt dabei auf, dass vor allem die Erlebnisse in Libyen traumatisch waren. »Dort sind keine Menschen, dort sind Monster«, sagt ein junges Mädchen, das im achten Monat schwanger war, als es in einem Boot über das Mittelmeer entkam. Inzwischen ist das Baby geboren, wer der Vater ist, verrät sie uns nicht.

Nur sehr wenige Mädchen sind unter den 15.000 bis 20.000 unbegleiteten Flüchtlingen, die jedes Jahr in Italien registriert werden, 95 Prozent sind Jungen. Dies liegt zum einen daran, dass die Reise über Libyen für Mädchen zu gefährlich ist. Es gibt aber noch einen anderen Grund: »Mädchen werden oft sofort abgefangen, wenn sie nach Europa kommen«, erklärt Giovanna Scifo, die Leiterin des Casa delle Cultura. »Noch bevor sie registriert werden können, werden sie angesprochen, man hätte Arbeit für sie und sie könnten gutes Geld verdienen. Manchmal werden diese Kontakte schon im Heimatland eingefädelt, manchmal aber auch nicht. Viele unbegleitete Flüchtlingsmädchen werden dann zu Prostituierten.«

Resilienz: An Schicksalsschlägen nicht zerbrechen

Die Jugendlichen im Casa delle Cultura haben es besser. Zweimal in der Woche kommt das terre des hommes-Team: eine Psychologin, eine Dolmetscherin, ein Sozialarbeiter. An zwei anderen Tagen der Woche sind die drei in der überfüllten Erstaufnahmeeinrichtung im nicht weit entfernten Hafen von Pozallo aktiv, wo die Flüchtlinge direkt nach ihrer Ankunft in einer großen Halle auf Matratzen lagern und ihre Registrierung erwarten.

Hier wie in Scicli kümmert sich das terre des hommes-Team um unbegleitete Kinder und Jugendliche sowie um Mütter mit kleinen Kindern: Es hilft, sich zu orientieren und traumatische Erlebnisse zu verarbeiten. Probleme werden gelöst, Verwandte werden gesucht und gefunden, es wird Mut gemacht. Die Jugendlichen lernen italienisch – die Voraussetzung für den Schulbesuch. Und es wird mit ihnen über ihre Zukunft gesprochen: ihre Träume, ihre Pläne, ihre Talente und Fähigkeiten. 90 Prozent der als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Eingereisten bleiben auch später in Europa – und zwar mit einem legalen Aufenthaltsstatus.

Resilienz ist das, was terre des hommes den Jugendlichen mitgeben will: innere Stärke, die Fähigkeit, an Schicksalsschlägen und schlimmen Erlebnissen nicht zu zerbrechen und den Lebensmut zu bewahren. Die Kinder und Jugendlichen im Casa delle Cultura haben das bitter nötig. Denn das Leben zu meistern in einem fremden Land, entweder ganz ohne Familie oder mit einer Familie, die viel zu viel von einem Hoffnungsträger erwartet, ist schwer – vor allem wenn man erst 15 oder 16 ist. Oder,  wie der schüchterne Junge aus Eritrea, erst zwölf.

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