Osnabrück, 6. Juni 2023 - terre des hommes und 45 weitere Kinder- und Menschenrechtsorganisationen sowie lokale Verbände und psychosoziale Zentren rufen die Bundesregierung in einem gemeinsamen Appell dazu auf, sich beim bevorstehenden Treffen der EU-Innenminister*innen am 8. Juni gegen die Reformvorschläge zum gemeinsamen europäischen Asylsystem zu stellen, da diese die Rechte und das Wohl geflüchteter Kinder und Jugendlicher gefährden.
»Vor etwa 30 Jahren wurde vom Deutschen Bundestag der bislang schärfste Einschnitt in das Asylrecht im Grundgesetz beschlossen, der Asylkompromiss von 1993. Heute steht die Bundesregierung vor einem ähnlich tiefen Einschnitt in das europäische Asylrecht«, sagte Sophia Eckert, Rechts- und Migrationsexpertin bei terre des hommes. »Die derzeit verhandelten Reformpläne zum gemeinsamen europäischen Asylsystem sind ein Ausverkauf der Menschenrechte von Geflüchteten in der EU. Sie sind aber auch ein Ausverkauf der Kinderrechte, denn sie verletzen auf eklatante Weise die Vorgaben aus der UN-Kinderrechtskonvention, die auch Teil unseres europäischen Grundrechts sind.«
Nach den derzeit auf Ebene des Rates der EU-Innenminister*innen diskutierten Plänen wären aller Wahrscheinlichkeit nach auch geflüchtete Kinder und Jugendliche von Inhaftierung oder haftähnlicher Unterbringung an den europäischen Außengrenzen betroffen. Dies verstößt gegen das in der Kinderrechtskonvention verankerte Recht auf Schutz vor Folter und Freiheitsentzug und kann schwerwiegende Folgen für die Gesundheit und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen haben. »In zahlreichen Studien wurden die schädlichen Effekte von Migrationshaft auf Kinder belegt. Dazu zählen Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen, Angstzustände und Symptome wie Schlaflosigkeit, Albträume und Bettnässen. Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Frustration können zudem zu Selbst- und Fremdverletzung führen«, so Eckert. »Dabei spielt es keine Rolle, ob die Unterbringung offiziell als Haft betitelt wird oder nicht. Eine massive Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Stacheldrahtzäune und bewaffnete Sicherheitskräfte bedeuten für Kinder, dass sie inhaftiert sind. Eine solche Unterbringung verletzt ihre Rechte.« Das Bündnis fordert die Bundesregierung daher auf, ihrer eigenen Ankündigung im Prioritätenpapier zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vom 26. April treu zu bleiben und sicherzustellen, dass Minderjährige vom Grenzverfahren ausgenommen werden.
Die Änderung des Rechtsrahmens zum europäischen Asylsystem würde aller Wahrscheinlichkeit nach auch dazu führen, dass sich geflüchtete Kinder und Jugendliche nicht mehr gegen fehlerhafte behördliche Entscheidungen wehren können. »Es fehlt in allen Verfahrensschritten von der Registrierung über die Zuständigkeitsprüfung bis zum Abschluss des Grenzverfahrens an ausreichenden Möglichkeiten, effektiv gegen behördliche Entscheidungen vorzugehen«, sagte Sophia Eckert. »Gegen fehlerhafte Alterseinschätzungen beispielsweise können sich Kinder und Jugendlichen überhaupt nicht rechtlich wehren, zumal Alterseinschätzungen im Grenzverfahren und unter Einsatz menschenunwürdiger, unzuverlässiger medizinischer Methoden durchgeführt werden könnten.«
Schließlich drohen durch die geplante Erweiterung des Konzepts der sicheren Drittstaaten massive Auswirkungen auf den Schutz von Asylsuchenden in der EU. Denn nach den aktuellen Reformplänen könnten ihre Asylanträge ohne jede individuelle Überprüfung ihrer Fluchtgründe abgelehnt werden, sowie für sie in Teilen eines außereuropäischen Landes ein Mindestmaß an Schutz besteht. Da dies für fast allen Ankommenden in der EU zutreffen würde, könnte es im schlimmsten Fall die endgültige Abkehr vom Flüchtlingsschutz in der EU bedeuten. »Damit würden nicht zuletzt Kinder und Jugendliche, die aus ihrem Heimatland vor kindesspezifischer Verfolgung wie Zwangsverheiratung oder Zwangsrekrutierung als Kindersoldat*in geflohen sind, ihrem Schicksal überlassen. Wir appellieren an die Bundesregierung, diesen Weg der Entrechtung geflüchteter Kinder und Jugendlicher in der EU nicht mitzugehen«, so Eckert.
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