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»Die Geräusche haben sich in unser Gedächtnis eingebrannt…«

Die Kinder in der Ukraine leiden besonders unter den Folgen des Krieges. Welche Spuren hinterlassen die Gewalterfahrungen und wie kann traumatisierten Kindern geholfen werden? Darüber sprachen wir mit Dr. Bogdan Androshchuk, Referatsleiter Östliche Partnerschaft bei der von terre des hommes unterstützten Organisation ChildFund Deutschland e.V.

Jeden Tag sehen wir die Bilder vom Krieg aus der Ukraine. Was können Sie uns zur Situation der Kinder sagen?

Seit der ersten Phase des russischen Angriffes auf die Ukraine, im Zeitraum zwischen 2014 und Anfang 2022, litten Hunderttausende von ukrainischen Kindern entlang der 427 Kilometer langen Frontlinie zwischen den Gebieten Luhansk und Donezk unter Traumata, unter einer geraubten Kindheit und unter mangelnden Entwicklungsmöglichkeiten. Mehr als 750 Schulen wurden zwischen Sommer 2014 und Februar 2022 ganz oder teilweise zerstört.

Nach Angaben des ukrainischen Ministeriums für Bildung und Wissenschaft sind seit Beginn der russischen Großoffensive im Februar 2022 477 Schulen und 397 vorschulische Einrichtungen zerstört worden. Die meisten davon befinden sich in den östlichen Regionen Donezk, Charkiw und Luhansk. Fast 22.000 ukrainische Lehrkräfte mussten wegen des russischen Angriffs die Ukraine verlassen.

Welche Auswirkungen hat der Krieg auf den Alltag der Kinder?

Tausenden von ukrainischen Kindern fehlt der Zugang zu sauberem Wasser, Strom und medizinischer Betreuung. Von Lwiw bis Mariupol werden Kinder von russischen Raketen verletzt oder getötet. In besetzten Städten werden Kinder von russischen Soldaten getötet, misshandelt, verletzt und entführt. Bis zum 18. April 2022 sind 205 Kinder ums Leben gekommen. Über 362 Kinder wurden verletzt. Millionen Kinder sind auf der Flucht.

Stellvertretend für die vielen Schicksale möchte ich das Beispiel eines zehnjährigen Kindes aus Mariupol nennen, das zurzeit an einem von terre des hommes geförderten Bildungsprojekt teilnimmt. Ihre Mutter erzählte: »Eine Rakete landete direkt auf dem Dach unseres kleinen Hauses. Das Haus wurde zerstört, wir überlebten wie durch ein Wunder. Meine Tochter verlor nicht nur ihr Zuhause, sondern auch ihr gewohntes Leben. Danach kamen Tage im Keller ohne Strom, Wasser, Gas, Internet und Kommunikation. Die ständigen Explosionen und Geräusche von Flugzeugen haben sich für immer in unser Gedächtnis eingebrannt. Ich werde nie vergessen, wie mein kleines Mädchen im Keller mit einer Kerze Hausaufgaben machte, um sich abzulenken. Sie tat das, was Kinder tun, während sie in der Schule sitzen, in Ruhe und Geborgenheit.«

In den Berichten heißt es, viele Kinder seien traumatisiert. Wie äußern sich traumatische Erfahrungen im Verhalten der Kinder?

Zum Beispiel denken Kleinkinder fälschlicherweise, dass das stattgefundene tragische Ereignis ihre Schuld sei. Sie drücken ihre emotionalen Reaktionen auf ein Trauma oft durch Schlafprobleme aus und haben Albträume. Ältere Kinder werden nach einem Trauma ängstlich, schüchtern und nervös. Auch Lernprobleme wie Konzentrationsschwierigkeiten, Schulverweigerung und aggressives Verhalten in der Schule sind häufig. Bei Jugendlichen äußern sich traumatische Erfahrungen noch mal anders: Sie neigen dazu, Gefühle für sich zu behalten, was zu depressiven Zuständen führen kann. Gleichzeitig tun sie vielleicht so, als sei alles in Ordnung.

Wie reagieren Kinder emotional auf den Verlust von Eltern, Geschwistern oder anderen Angehörigen?

Wir wissen noch nicht, wie viele Kinder den Tod eines oder beider Elternteile miterlebt haben. In der Öffentlichkeit ist nur wenig bekannt, was Kinder erleiden, wenn sie Zeugen des Mordes, der Vergewaltigung oder der Folter an ihren Eltern, Geschwistern oder Verwandten werden. Oder wenn sie selbst Opfer des Missbrauchs geworden sind.

Unsere Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen berichten von negativen Verhaltensauffälligkeiten. Wenn das Kind einen Elternteil oder eine wichtige Bezugsperson verliert, sucht es ständig die Aufmerksamkeit der Erwachsenen, auch in negativer Weise. Es provoziert Bestrafungen, ärgert die Erwachsenen.

Welche psychologischen Methoden gibt es zur Behandlung traumatisierter Kinder?

Von unseren Fachleuten wissen wir, dass es für die Kinder außerordentlich wichtig ist, von ihren Eltern oder anderen Erwachsenen unterstützt und ermutigt zu werden. Der Krieg trennt die Menschen voneinander, deshalb sollte die Verbindung durch Nähe innerhalb der Gemeinschaft gestärkt werden. Es ist wichtig, einen Raum zu schaffen, in dem Hoffnung und Pläne für die Zukunft geschmiedet werden können. Alles, was eine Gemeinschaft schafft oder zu einer kleinen Gemeinsamkeit führt, stellt eine Form der Therapie dar.

Wenn es sich um komplexe Vorfälle mit Panikattacken handelt, setzen wir Psycholog*innen ein, die sich auf Kriegstraumata spezialisiert haben. Oft ist es schwierig, solche Expertise vor Ort zu finden.

Die meisten Opfer wollen reden, sie wollen, dass man ihnen zuhört. Die Evakuierten verbringen in den ersten Tagen die meiste Zeit am Telefon, um die Geschichten anderer und vertraute Stimmen zu hören. Wichtig ist, dass die Eltern sich wohlfühlen können, damit sich ihre ausgeglichene Stimmung positiv auf die Kinder auswirken kann. Das Ziel muss sein, dass die Kinder wieder ein Gefühl von Sicherheit entwickeln können.

Welche Hilfen sind im Moment wichtig? Welche Angebote muss es langfristig für die betroffene Kinder geben?

Es wäre wichtig, systematische, kontinuierliche und gezielte Hilfsangebote ukraineweit zu entwickeln. Wir konzentrieren uns im Moment auf folgende vier Gruppen:

  1. Kinder, die in umkämpften, umzingelten oder von russischen Truppen besetzten Regionen leben oder bleiben müssen
  2. Kinder, die evakuiert und während der Evakuierung entsprechend betreut werden müssen
  3. Kinder, die nach der Evakuierung an einem sicheren Ort angekommen sind, und psychologisch wie auch medizinisch behandelt und in die neue Gesellschaft integriert werden müssen
  4. Kinder, die keine direkte Auswirkung des Krieges an sich erlebt haben, aber stets unter Angstzuständen durch potenzielle Gefahren wie beispielsweise Raketenbeschuss leiden.

Nachhaltiges Ziel muss sein, eine sichere Umgebung für Kinder zu schaffen, die es ihnen wieder erlaubt, Kind zu sein.

Wie ist der Stand der aktuellen Hilfsmaßnahmen, die terre des hommes unterstützt?

Dank der Unterstützung von terre des hommes, die ChildFund Deutschland erhält, können wir mit Hilfe von zivilgesellschaftlichen ukrainischen Partnerorganisationen die Unterstützung von betroffenen Kindern sicherstellen. Neben bildungs- oder psychotherapeutischen Angeboten gehört dazu auch die  Versorgung der Kinder und Familien mit Lebensmitteln, Medikamenten und Kleidung. Dabei möchte ich hervorheben, dass alle unsere Partner*innen selbst Binnenflüchtlinge sind, die stets von unterwegs oder von Flüchtlingscamps, Hotels, temporären Unterkünften  etc. ihre Hilfe für betroffene Kinder und ihre Familien leisten.

In der Stadt Iwano-Frankiwsk im westlichen Teil der Ukraine, in der sich aktuell Tausende von Binnenflüchtlingen aufhalten, wurden zum Beispiel Kunsttherapiegruppen gebildet. In vier Flüchtlingsunterkünften in Tscherniwzi wurde für die Kinder und ihre Eltern vor ein paar Wochen mit der Gruppentherapie angefangen. Es wurden außerdem Möglichkeiten des Online-Unterrichts geschaffen. Täglich nehmen bis zu 500 Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Ecken des Landes am Online-Unterricht teil. Betreut werden sie von einem Netzwerk von 200 Lehrkräften.

Welche Maßnahmen werden außerdem gefördert?

Ukraineweit werden vor allem Kinder mit Behinderungen und sonderpädagogischem Bedarf, mit Vorerkrankungen sowie Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen mit lebensnotwendigen Hilfsgütern versorgt. Allein in der Hauptstadt Kiew werden seit Wochen 100 Familien mit Kindern mit Behinderungen mit lebensnotwendigen Gütern versorgt.

Flüchtlingscamps im westlichen Teil der Ukraine oder von russischen Truppen befreite Dörfer und Städte im südlichen Teil der Ukraine werden mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt. Babynahrung und Hygieneartikel für Babys und Kleinkinder werden dringend benötigt.

Um eine sichere Umgebung für Kinder zu schaffen, müssen auch Eltern lernen, mit dieser Situation umzugehen. Aus diesem Grund werden den Eltern regelmäßige offene Treffen angeboten, um ihnen Verhaltensweisen näherzubringen, die der Entwicklung von posttraumatischen Belastungsstörungen vorbeugen sollen.

Auf welche Entwicklungen in der Ukraine bereiten Sie sich im Moment vor? Was erwarten Sie?

Wir wissen nicht, was uns die Zukunft bringt. Wir sehen und erleben aber tagtäglich, was unsere gemeinsame Hilfe bewirkt: Tausende von Kindern bekommen monatlich alles, was sie für ihr Leben unter den aktuellen Umständen brauchen: Lebensmittel, Kleidung, qualitative Bildung.

Wir bieten den Betroffenen psychotherapeutische und medizinische Betreuung, Unterkünfte sowie Erholungs- und Entwicklungsangebote an. Wir hoffen, dass dank unserer Hilfe alle betroffenen Kinder ihre Chancen auf eine gute und sichere Zukunft bewahren können. Gleichzeitig müssen wir uns, fürchte ich, darauf einstellen, dass wir in den nächsten drei bis fünf Jahren Tausende von ukrainischen Kindern unterstützen müssen, insbesondere im Hinblick darauf, was ihnen durch den russischen Krieg geraubt wurde. Bereits jetzt sollten wir aufgrund der aktuellen Ressourcen kurz- bis langfristige Hilfs- und Begleitprogramme entwerfen, um die vom Krieg betroffenen Kinder in und außerhalb der Ukraine zu betreuen.

28.04.2022

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