»Es hilft, nicht die Hoffnung zu verlieren«
Interview zum zweiten Jahrestag des Militärputsches in Myanmar
Die Geschichte Myanmars ist geprägt von Gewalt, Unterdrückung und blutigen Konflikten zwischen Militär und bewaffneten Gruppen. Mit dem Wahlsieg der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi 2015 und 2020 schien ein Ende der Gewalt greifbar. Doch im Februar 2021 zerschlugen die Militärs mit einem Putsch alle Hoffnungen auf Freiheit und Demokratie. Über die aktuelle Situation im Land und die Möglichkeiten der Hilfe sprachen wir mit der terre des hommes-Koordinatorin Südostasien, Pilgrim Bliss Gayo.
Im Februar 2021 führte das Militär in Myanmar einen Staatsstreich durch. Was waren die Gründe für den Putsch?
Analyst*innen zufolge ist die einfachste Erklärung, dass der Putsch vom persönlichen Ehrgeiz eines Armeechefs angetrieben wurde, der das Gefühl hatte, die Kontrolle über das Land zu verlieren. Betrachtet man jedoch die Vergangenheit Myanmars, so sind bewaffnete Konflikte und die Herrschaft des Militärs keine Ausnahmen, sondern Teil der Geschichte dieses Landes. Die Initiativen für politische Reformen hin zu einer »demokratischen Regierungsführung« in den letzten Jahren dienten den Militärs als Experiment, das beendet wurde, als es für zu bedrohlich für den eigenen Machterhalt empfunden wurde.
Die Wahl im Jahr 2020 wurde von den Militärs für einen Staatsstreich benutzt, anstatt die Einsetzung einer demokratisch gewählten Regierung voranzutreiben. Das Militär bestritt die Wahlergebnisse und nutzte sie, um den Putsch am 1. Februar 2021 zu rechtfertigen.
Nach dem Putsch gab es im ganzen Land Demonstrationen und Kundgebungen gegen das Regime. Wie ist die Situation im Moment?
Nach der Machtübernahme gab es zahlreichen gewaltfreien Demonstrationen. Trotz ihres friedlichen Charakters wurden sie mit Gewalt niedergeschlagen. Schätzungen zufolge sind seitdem zwischen 1.500 und 2.800 Zivilisten ums Leben gekommen, viele Menschen wurden verletzt. Rund 16.000 Demokratiebefürworter*innen wurden verhaftet ebenso Mitarbeiter*innen von Krankenhäusern und Rettungsdiensten, weil sie verletzten Bürger*innen halfen.
Weiterhin werden wegen der Luftangriffe, Militäroffensiven und Kämpfe zwischen bewaffneten Gruppen Tausende Menschen vertrieben. Die bewaffneten Widerstandsgruppen entstanden aus dem Versuch der Gemeinden, sich gegen die militärische Gewalt zu schützen.
Diejenigen, die in den Verdacht geraten, »Anhänger*innen der Demokratie« zu sein, dazu zählen zum Beispiel junge Leute oder einzelne Mitarbeiter*innen von Nichtregierungsorganisationen, leben täglich mit der Angst, verhaftet zu werden. Um Aktionen gegen die Regierung zu unterdrücken, sind Internet und Strom unterbrochen. Es wurde ein Gesetz verabschiedet, nach dem Nichtregierungsorganisationen sich registrieren lassen müssen. Das dient der Überwachung. Banküberweisungen aus dem Ausland werden streng kontrolliert, in manchen Fällen können Einzelpersonen und Organisationen monatelang nicht auf ihr Geld zugreifen. Erst diesen Monat hat die Regierung die Ausstellung von Reisepässen gestoppt, um so Aktivist*Innen daran zu hindern, das Land zu verlassen.
Gibt es noch Proteste gegen das Regime?
Ja, der Militärputsch hat eine sehr widerstandsfähige Form des friedlichen, zivilen Widerstands hervorgebracht. Die Zivilbevölkerung zeigte das auf ihre Weise, indem einfache Bürger*innen keine Steuern und Stromrechnungen zahlten oder Produkte und Konsumgüter boykottierten, die aus Firmen stammen, an denen ranghohe Militärs beteiligt sind. Oder: Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens verlassen die staatlichen Einrichtungen, um als Freiwillige medizinische Hilfe in den Gemeinden zu leisten. Es gibt Lehrkräte, die sich neben ihrer offiziellen Tätigkeit auch in Gemeinden und Lagern für Binnenvertriebene engagieren, damit die Kinder weiterhin lernen können. Die lokalen Medien berichten auch von Demonstrationen und Protesten. Die Botschaft ist klar: Die Menschen in Myanmar werden niemals aufhören, auf ein demokratisches Land zu hoffen.
Das Militär ist immer schon brutal gegen Ethnien vorgegangen. Erst jüngst war von Luftangriffen auf Dörfer des Karen-Volkes die Rede. Wie stellt sich die Situation im Moment dar?
Die Luftangriffe finden nicht nur auf Dörfer der Karen statt. Es gibt sie auch in vielen anderen Gebieten wie Kachin, Kayah, Chin und Rakhine im Osten des Landes an der Grenze zu Thailand und in der Mitte des Landes. Meistens müssen die Menschen aus diesen Gebieten in nahe gelegene Dörfer fliehen. Die Zahl der Luftangriffe auf Gebiete ethnischer Minderheiten und den mittleren Teil Myanmars beläuft sich bis heute auf mehr als hundert.
Besonders das Volk der Rohingya hat eine leidvolle Geschichte von Gewalt und Vertreibung. Hunderttausende leben in Flüchtlingsdörfern in Nachbarländern. Wie ist dort die aktuelle Situation?
Das Volk der Rohingya, eine muslimiche Minderheit, wurde 2017 zu Staatsfeinden erklärt und vom Militär Myanmars mit brutaler Gewalt aus dem Rakhine-Staat im Westen Myanmars vertrieben. Tausende kamen dabei ums Leben, Dörfer wurden niedergebrannt, Frauen und Mädchen vergewaltigt. Etwa 700.000 Rohingya leben seitdem in Flüchtlingslagern in Bangladesch, darunter fast 500.000 Kinder. Die Bedingungen in diesen Lagern sind außerordentlich schwierig, die Menschen sind dort auf engstem Raum zusammengepfercht und auf internationale Hilfe in Form von Lebensmitteln und Arzneien angewiesen.
In der Vergangenheit wurden Kinder von verschiedenen Kriegsparteien als Soldat*innen zwangsrekrutiert. Ist das immer noch so?
Seit dem Militärputsch werden mehr Kinder und Jugendliche als Soldat*innen für das Militär rekrutiert, aber auch von verschiedenen bewaffneten Gruppen angeworben. Die Militärs machen zum Beispiel Druck auf Kinder und Jugendliche, die des Drogenkonsums verdächtigt werden, sich den Streitkräften anzuschließen. Sie drohen ihnen mit Haftstrafen oder versprechen Haftverschonung. Und es gibt Jugendliche, die sich den bewaffneten Gruppen anschließen, weil sie sich so schützen wollen.
Für Hilfsorganisationen ist es bestimmt schwierig, unter den momentanen Bedingungen zu arbeiten? Wie hat sich terre des hommes auf die Situation eingestellt?
Für internationale Hilfsorganisationen ist es eine Herausforderung, Menschen zu helfen, wenn ihre einheimischen Mitarbeiter*innen und Partnerorganisationen gefährdet sind und bedroht werden.
terre des hommes kann seine Länderprogramme mit der gebotenen Vorsicht und ein paar Anpassungen fortsetzen. Wir können uns dabei trotz der Restriktionen des Militärs auf unsere lokalen Partnerorganisationen stützen. Sie verfügen über fundierte Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten und haben die notwendigen Unterstützungsnetzwerke, um sich selbst zu schützen. Sie können ihre Arbeit leichter an die jeweilige Situation vor Ort abpassen.
Ich muss aber klar sagen: In der momentanen Situation ist niemand sicher, weil die Junta Menschen ohne jeden Grund verhaftet.
In welcher Weise kann denn im Moment konkret Hilfe geleistet werden?
Wir konzentrieren uns auf die Unterstützung von Kindern, die in direkten Kriegsgebieten leben, und auf geflüchtete Kinder. Bei beiden Gruppen sehen wir die gleichen Schwierigkeiten: Die Familien können die Grundbedürfnisse ihrer Kinder nicht angemessen befriedigen, es fehlt an den wichtigsten Lebensgrundlagen wie Essen, sauberem Wasser und Arzneimitteln. Auch der Zugang der Kinder zu Bildung ist begrenzt, da es den von den Gemeinden organisierten Schulen an Lehr- und Lernmitteln, Papier und Stiften mangelt Aus diesem Grund kümmern sich unsere Partnerorganisationen vor Ort um die nötige Basisunterstützung in den Bereichen Ernährung, Gesundheitsfürsorge, Grundschulbildung. Das Trauma der Kriegserfahrungen ist für die Kinder ein großes Problem, hier bemühen sich unsere Partnerorganisationen um Sozialarbeiter*innen, die den Kindern helfen, über ihre schlimmen Erlebnisse hinweg zu kommen.
Zum Schluss noch ein Appell: Wir rufen die internationale Gemeinschaft auf, ihre Solidarität zu zeigen und die lokale Bevölkerung mit humanitärer Hilfe zu unterstützen. Dieses Zeichen der Solidarität geht weit darüber hinaus, den täglichen Bedarf zu decken. Es hilft unseren Partnerorganisationen und den Menschen in Myanmar auch dabei, nicht die Hoffnung zu verlieren.
31.01.2023