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Triye Selasi: Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Fischer Taschenbuch Frankfurt (Main) 2014
398 Seiten, 10,99 Euro
ISBN: 978-3-596-19333-2

Kweku Sai hat alles erreicht, was er erreichen wollte und konnte. Aufgewachsen in einem Dorf in Ghana, hat er immer weiter gelernt, studiert und als Arzt praktiziert. Schließlich hat er eine gute Stelle als Chirurg in den USA gefunden und ist mit seiner Frau und dem ersten Sohn Olu ausgewandert. Von seinen Kollegen erfährt er höchste Anerkennung als Arzt.  

Die Zwillinge Taiwo und Kehinde werden geboren und sind von Anfang an vor allem aufeinander bezogen. Folasadé, seine nigerianische Frau aus Lagos, hat ebenso wie Kweku nicht mehr viel Kontakt zur Familie. Sie sind eine glückliche und moderne Familie afrikanischer Herkunft, wie es heute in den USA und in England viele gibt. Sadie,  die Nachzüglerin, kommt bei der Geburt viel zu früh, es ist nicht zu erwarten, dass sie überlebt. Folasadé verfällt in Trauer, aber Kweku entschließt sich, den aussichtslosen Kampf um das Baby zu kämpfen und bleibt fast Tag und Nacht in der Frühchenstation. Sadie überlebt die Geburt und wird zum Nesthäkchen der Familie.

Ein Traum platzt
Das Leben der Familie bekommt eine radikale Wendung, als Kweku Sai vom Direktor der Klinik genötigt wird,  eine Operation, die nur schief gehen kann, durchzuführen. Bei der  Patientin handelt es sich ausgerechnet um die Angehörige der wichtigsten Sponsorenfamilie des Krankenhauses. Die Operation geht schief, die Patientin stirbt. Daraufhin fordert die  Familie der Verstorbenen die Entlassung des Chirurgen. Kweke Sai wird mit der Begründung entlassen, dass er die Operation nicht hätte durchführen dürfen.  

Danach geht Kweku weiterhin täglich aus dem Haus. Er nimmt sich einen Anwalt. Er kämpft gegen die ungerechtfertigte Entlassung an. Er verliert. Er stürmt in die Klinik zum Direktor und wird aus der Klinik verwiesen. Kehinde, sein Sohn, wartet an diesem Tag in der Eingangshalle auf ihn und sieht, wie sein Vater  mit Gewalt hinausgeschleift wird. Sie fahren nach Hause. Kweku bittet seinen Sohn, nichts zu erzählen. Er bleibt im Auto sitzen, lange Zeit, glaubt, dass es unmöglich ist, über die Scham hinwegzukommen. Er fährt weg und kommt nicht mehr zu seiner Familie zurück. Einmal ruft er an und sagt seiner Frau, dass sie das Haus verkaufen kann und er damit klar komme.  

Der Bruch
Jetzt müsste Folasadé mit den vier Kindern alleine zurechtkommen. Sie lässt sich scheiden. Die Zwillinge Taiwo und Kehinde schickt sie zu ihrem Onkel nach Ghana, einem reichen Kriminellen. Sie glaubt, es sei besser für sie, da er verspricht, ihnen einen College-Besuch zu finanzieren. Doch das soll sich als großer Irrtum herausstellen. Bei der Mutter bleibt nur das Nesthäkchen Sadie.

Viele Details seines Lebens und Scheiterns in den USA gehen Kweku durch den Kopf, als er sehr früh an der Tür zum Garten steht und den ersten Stich spürt. Er könnte wissen, dass er noch Chancen hat, wenn er sich sofort ins Krankenhaus begibt. Er steht aber da und tut nichts, denkt nur nach und überlässt sich seinen Erinnerungen. Er steht in seinem Haus, das ein alter, eigensinniger und  sehr talentierter Zimmermann nach seinen Plänen gebaut hat. Nach zwei Jahren war es fertig. Mit 53 Jahren hat er noch einmal geheiratet. Seine neue Frau Ama schläft noch, er will sie auf keinen Fall stören.

Vereinigung am Grab
Alle haben sich später gefragt, warum er nichts unternommen hat, dass er doch die Anzeichen des Herzinfarkts hätte erkennen müssen. Die Suche nach dem »Warum«, die Frage, wie alles kommen konnte, das beschäftigt Folasedé und die erwachsenen Kinder, als sie sich alle zum ersten Mal seit langer Zeit wiedersehen. Es ist ausgerechnet die Beerdigung ihres Vaters, der dieses Treffen in Ghana, wo nur Olu, der älteste Sohn, früher schon gewesen war, möglich macht.
Auch Folasadé hat sich inzwischen wieder in Ghana niedergelassen, nicht in Nigeria. Die jetzt erwachsenen Töchter und Söhne haben sich damals, als Kweku seine Familie verlassen hat, von ihrem Vater distanziert. Aber auch von der Mutter, die schließlich den Vater als Reaktion ihrerseits verlassen hat. Distanziert  aber auch von der häuslichen Atmosphäre voll unausgesprochener Erwartungen, Konflikte und Gefühle. Sehnsucht und Groll sind geblieben, und alle haben auf die eine oder andere Weise ihr Leben als quälend erfahren und ringen darum, ihren Platz zu finden. Dennoch sind sie alle zur Beerdigung angereist, teilweise erfolgreich, aber verschlossen, eingeschlossen in die Dinge, die nicht einfach so geschehen sind, sondern für die es Gründe gibt.

Bekenntnisse
In Ghana, bei ihren Tanten, den Schwestern ihres Vaters, kann sich Sadie für kurze Stunden aus dem Drama ihres Minderwertigkeitsgefühls befreien, Taiwo kann endlich die Sehnsucht nach dem Vater zugeben und herausschreien, was ihr und ihrem Zwillingsbruder in Nigeria von ihrem kriminellen Onkel angetan wurde.
Kehinde, der Künstler, wird seiner Zwillingsschwester berichten, dass er nun glaubt, eine Frau zu lieben, dass er vielleicht -trotz allem- wird lieben können. Und auch Olu befreit sich aus dem Gefängnis des Haderns mit seinem Vater. Folasadé wird sich ihrer Einsamkeit in Ghana bewusst, ist froh, dass alle Kinder da sind und weiß zugleich, dass die Familie sich nicht mehr näher kommen kann. Sie erkennt, wie auch sie nicht die richtigen Worte, nicht die Berührungen, nicht den Zugang gefunden habe,  als es  darauf angekommen wäre. Sie bittet Taiwo um Verzeihung, dass sie die Zwillinge – gut gemeint – für ein Jahr nach Nigeria geschickt hat, wo sie von Folasadés Bruder aufs Schrecklichste missbraucht worden sind. Sie besucht Ama, Kwekus neue Frau, und bittet sie, mit ihr und den Kindern zur Beerdigung zu gehen. Ama bringt ihr Kwekus Pantoffeln. Es sind die  Pantoffeln, die ihn sein Leben lang begleitet haben und die er für unabdingbar in jedem Haus hielt, überall.

Ein erfreuliches Buch
Taiye Selasi erzählt die Geschichte der nigerianisch-ghanaischen Familie einfühlsam und schwungvoll. Sie erzählt aus wechselnden Perspektiven und macht auch die heftigen und gelegentlich verzweifelten Reaktionen für den Leser verständlich. Die scheinbar geglückte Auswanderung in die USA, die schwierige Identitätssuche der Kinder, schon bevor Kweku die Familie verlässt, das Glück, das Kweku mit der Rückkehr nach Ghana trotz allem noch gefunden hat – existenzielle Themen, die die Autorin mit großer Leichtigkeit aufgreift. Trotz vieler Schrecknisse wird der Leser gut unterhalten. Zum Ende freut man sich mit allen, dass ihr Zusammentreffen zwar nichts ungeschehen macht, sich aber doch für alle Türen öffnen und auch ein neues Miteinander möglich scheint. Ein erfreuliches Buch, das auch als Geschenk für Leserinnen geeignet ist, die sich nicht mit Afrika beschäftigen.  

Rezension: Monika Huber

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