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Yaa Gyasi: Heimkehren

Verlag: DuMont Buchverlag
416 Seiten
Preis: 12,-- €
ISBN-13: 9783832164607
ISBN-10: 383216460X

Effia und Esi sind Halbschwestern, sie haben dieselbe Mutter. Die Familien und Dörfer in Ghana, in denen sie aufwachsen, gehören zu unterschiedlichen Stämmen (Fante und Asante) und sprechen unterschiedliche Sprachen. Beiden Schicksalen folgt der Roman über sieben Generationen. Die Erzählung setzt ein um 1780: An der Küste Ghanas haben sich die Briten als Kolonialmacht festgesetzt und die Festungen ausgebaut. Stämme im Hinterland kämpfen um ihre Position im Sklavenhandel. Die einen fangen Männer, Frauen und Kinder in Dörfern, die sie überfallen, die anderen verkaufen die Gefangenen als Sklaven an die Briten, die später dann ihrerseits den überseeischen Sklavenhandel mit den USA organisieren.

Verkauf als Ehefrau
Effia muss ihr Fante-Dorf verlassen. Sie wird als Ehefrau an den Gouverneur der Festung verkauft, der in England ebenfalls eine Frau und zwei Kinder hat. Erst dort erfährt Effia, dass sie nicht das Kind ihrer Eltern, sondern die Tochter ihres Vaters und einer Haussklavin ist. Ihre leibliche Mutter verschwand und der Vater zwang seine Ehefrau, das Baby als ihres anzunehmen. In der Nacht, in der die kleine Effia geboren wird, brennt ein großes Feuer das elterliche Haus und das ganze Dorf nieder. Effias Leben begann mit der häuslichen Vernachlässigung und Schlägen und Missgunst durch die Mutter. Als sie beinahe starb, befahl ihr Vater seiner Ehefrau: »Liebe sie, dann wird sie überleben«.

Sie erfährt, dass der Stein, den sie beim Abschied in die Hand gedrückt bekommen hat, von ihrer Mutter ist. Sie versteht, warum sie einen so schweren Stand zu Hause und im Dorf hatte. In der Festung wird sie gut behandelt, aber sie weiß sehr schnell, dass im Verlies der Festung Sklaven eingesperrt sind, die dann später verkauft werden. Der Gouverneur heiratet sie, und schließlich wird sie auch schwanger und bekommt einen Sohn, Quey.

Esi weiß in ihrem Dorf nichts vom früheren Leben ihrer Mutter als Sklavin. Sie hilft der Mutter, die sich lange weigert, ein Hausmädchen, ein Kind im Haushalt zu beschäftigen. Schließlich kann sie sich dem Drängen ihres Mannes nicht mehr entziehen. Esis bewunderter Vater trägt den Titel »Großer Mann« wegen seiner Führungsqualitäten. Esis Mutter kann nicht verhindern, dass ihr Mann die junge Haussklavin eines Tages auspeitscht. Was »Großer Mann« Asare jedoch nicht weiß, ist, dass der Stamm der Haussklavin inzwischen mächtig geworden ist.

Esi gerät in Gefangenschaft
Eines Tages wird das Dorf überfallen und angezündet. Esis Mutter flieht nicht, sondern schickt Esi in den Wald. Wie die anderen Kinder und Jugendlichen klettert sie eine Palme hoch und hofft, nicht entdeckt zu werden. Sie wird gefangen und, an andere Gefangene gekettet, auf einen Gewaltmarsch geschickt, bis sie in Fante-Land ankommen und dort an die Weißen weiter verkauft wird. Ein gutes Geschäft, denn die Asante gelten als stark. Bei der Sklavenbeschau trifft Esi, ohne es zu wissen, auch auf Fiifi, den Halbbruder von Effia, der inzwischen ein geschickter Verhandler der Asante geworden ist und die Fronten je nach Interesse wechselt. Fiifi wollte auch Esi, so wie die anderen Sklavinnen, zur Prüfung ihrer körperlichen Qualitäten ausziehen. Aber sie spuckt ihm ins Gesicht – und wird mit Schlägen auf ihr Ohr bestraft. Sie muss im Verlies in der Festung bleiben. Über ihr lebt Effia. Die beiden wissen nichts voneinander. Esi hungert und leidet unter den unbeschreiblichen hygienischen Zuständen. Ihren Stein hat sie im Mauerwerk versteckt. Sie wird von einem Soldaten vergewaltigt, was den Soldaten verboten ist. Der Gouverneur selbst wählt eines Tages 20 Frauen aus, die hinaus ans Licht gebracht werden, ausgewählt für die Überfahrt nach Amerika. Ihr Stein ist verloren, ihre Tochter Ness wird sie in Amerika als Sklavin bekommen.

Die nächste Generation
Effias Nachkommen bleiben in Ghana, erleben die Kämpfe gegen die britische Herrschaft, die Spaltung des Landes, die Einführung des Kakaoanbaus, die Dürren, die Unabhängigkeit. Esis Nachkommen erleben Sklaverei, die Sklaverei nach der Abschaffung der Sklaverei, die Diskriminierung Schwarzer, den Kampf um mehr Rechte und das tägliche Ringen, mit wenigem auszukommen. Yaa Gyasi stellt in jeder Generation eine Person in den Mittelpunkt und erzählt von ihrem Leben, ausgehend von einem Ereignis, mit dem jedes Kapitel beginnt. Die Kapitel wechseln sich mit den Geschichten von Effias und Esis Nachkommen ab.

Diese einzelnen Geschichten durch die Jahrzehnte sind sehr fesselnd geschrieben. Yaa Gyasi gelingt es sehr gut, alle Personen als Individuen, die lieben, leiden und handeln, die einen Namen haben, eine Geschichte, auch wenn sie ihnen oft abgesprochen wird, zu beschreiben. Was mir besonders gefallen hat: die Kinder und Kindeskinder von Effia und Esi werden nicht auf Rollen in der schrecklichen Zeit der Sklaverei festgelegt, sondern auch mit ihren persönlichen Vorzügen und Schwächen geschildert. Alles, was Effias und Esis Nachkommen erleben, ist durchaus Folge der Gewalt, die die einen in Ghana, die anderen in Amerika erleben mussten. Die Autorin beschreibt aber ebenso genau die Charaktereigenschaften jedes einzelnen, zum Beispiel wie Willie Black, die Ururenkelin von Esi, ihr Leben mit ihrer wunderschönen Singstimme gemeistert hat. Es ist klar, dass weder die Briten noch die weißen Amerikaner noch der christliche Glaube aus der Perspektive derer, die koloniale Zerstörung und Sklaverei erlebt haben, gut wegkommen. Dennoch lernen wir in jeder Generation Mädchen und Jungen, Frauen und Männer kennen, die nicht hassen, sondern den Wunsch nach Freiheit weitertragen und ihre Umgebung mit menschlicher Anteilnahme ansehen.

Gelungene Verknüpfung von Historie und individueller Geschichte
Es ist das erste Buch der Autorin, zu Recht hat es schon großen Anklang gefunden. Sie hat die Geschichte ihrer Vorfahren, die Geschichte der Goldküste Ghanas in diesem Familienroman verwoben. In der Auswahl und Gestaltung der einzelnen Episoden sind ihr historische Bezüge und individuelle Geschichten gleichermaßen gelungen.

Am Ende des Buches schließt sich der Kreis. Marjorie Agyekum aus Ghana, Nachfahrin von Effia, und Marcus Clifton aus den USA, Nachfahre von Esi lernen sich in den USA kennen und reisen gemeinsam nach Ghana. Jeder auf seine Weise empfindet die Reise als »Heimkehren«, die Sehnsucht aller, die zwangsweise ihr Dorf, ihre Heimat verlassen mussten. Marjorie muss sich dem Feuer nähern, der über die Generationen weitergegebenen Angst der Familie vor Feuer. Marcus hingegen muss sich in das Meer vor der Küste Ghanas locken lassen, das Meer, das er sich -wie alle in der Familie vor ihm- nur als größten Schrecken vorstellen kann. Als Leserin hofft man, dass die Überwindung dieser Schrecken in eine versöhnliche Zukunft führt. Das richtige Geschenk -nicht nur zur Weihnachtszeit!

Monika Huber

Ein Gesamtübersicht aller in dieser Rubrik besprochenen Bücher und Leseempfehlungen finden Sie auf unserer Seite »terre des hommes-Medientipps«.